Die Linke: Das erstaunlichste Comeback des Jahres 2025
[Vorläufige Analyse mit Stand: 09:30 Uhr, 24.02.2025]
Wann hatte es zuletzt bei einem Wahlabend Partystimmung bei der Linkspartei gegeben? Möglicherweise 2019, als sie unter Bodo Ramelow bei der Landtagswahl stärkste Partei wurde. Das ist lange her.
Bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 legte eine gründlich renovierte Linke ein phänomenales Comeback hin. Bei einer spürbar gestiegenen Wahlbeteiligung von 83,1 Prozent (2021: 76,4 Prozent) erreichte Die Linke 7,9 Prozent der Erststimmen (3,9 Mio. Stimmen) und 8,8 Prozent der Zweitstimmen (4,355 Mio. Stimmen). Damit verdreifachte sie knapp den eigenen Ausgangswert der Umfragen am Beginn dieses Bundestagswahlkampfes.
Mit den „Silberlocken“ wollte Die Linke drei Wahlkreise gewinnen. Und zusätzlich noch Lichtenberg halten sowie Leipzig II wiedergewinnen. Das Ziel wird erreicht, wenngleich mit überraschenden Änderungen. Die Linke gewinnt Direktmandate in 6 Wahlkreisen (4 x Berlin, 1 x Sachsen, 1 x Thüringen).
In Berlin wird Die Linke mit 22,2 Prozent der Erststimmen und 20,1 Prozent der Zweitstimmen stärkste Kraft. Mit Ausnahme von Bayern erhält Die Linke in allen Bundesländern mehr als 5 Prozent der Erststimmen. Bei den Zweitstimmen erreicht die Partei zweistellige Werte neben Berlin in Thüringen (15,2 Prozent), in Bremen und Hamburg (14,8 bzw. 14,4 Prozent), in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt von je etwas mehr als 10 Prozent sowie zwischen 5 und mehr als 8 Prozent in den übrigen Ländern.
Um sich die Dimension dessen vor Augen zu führen, aber auch um den Erfolg dieses Wahlabends einzuordnen und Hinweise zu geben, wo trotz Euphorie weitergearbeitet werden muss, ist es nötig zunächst zurückzublicken. Auch auf die Gefahr hin, wie der unbeliebte Partycrasher zu wirken.
Bundestagswahl 2021: Kurz vor der Katastrophe
Am Tag nach der Bundestagswahl 2021 gab es für die Partei keine Freude, sondern ein Katerfrühstück – denn zwei Millionen verlorene Wähler:innenstimmen gegenüber 2017 mussten erstmal verkraftet werden. Nur drei Direktmandaten verhinderten seinerzeit den absoluten Worst Case – das Verschwinden der Partei aus dem Deutschen Bundestag.
Die Linke im Vergleich: Bundestagswahl 2021 und 2017 |
|||||||
Absolute Stimmen |
Differenz |
Prozentuale Stimmenanteile |
Differenz |
Mandate |
|||
2017 |
2021 |
+/- |
2017 |
2021 |
+/- |
2017 |
2021 |
4.297.270 |
2.269.818 |
47,2 % |
9,2 |
4,9 |
-4,3 % |
69 |
39 |
Quelle: Eigene Zusammenstellung |
In den deutlichen Stimmenverlusten 2021 spiegelte sich eine grundlegende strategische und inhaltliche Krise innerhalb der Partei, die sich auch in den handelnden Personen ausdrückte. Knapp die Hälfte der Linke-Wähler:innen 2021 (46 Prozent) und mehr als zwei Drittel (70 Prozent) aller Wählenden bei der vergangenen Bundestagswahl waren der Überzeugung, dass Die Linke keine überzeugenden Führungspersonen mehr habe. Denn die prägenden Personen repräsentierten nach innen wie nach außen eine in sich zerstrittene Partei, die sich zunehmend weniger zu sagen hatte.
Taktische Fehlentscheidungen waren keine Momentaufnahme, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden Unklarheit über die eigene Positionierung der Linken. Das strategische Versprechen vor vier Jahren, mit der Linken als Alternative „ die CDU aus der Regierung zu wählen“, war nicht authentisch untersetzt, denn auch in der Frage, ob Die Linke, wenn es auf sie ankäme, bereit sei, Gestaltungsverantwortung in einer Regierung zu übernehmen, gab es nicht nur keine Einigkeit. Sondern bei einer Abstimmung wie über die militärische Absicherung des Abzugs aus Afghanistan, zeigte sich Die Linke uneins, handlungs- und politikunfähig.
In den für die Partei wichtigen Kompetenzfeldern Soziale Gerechtigkeit (-5 Prozentpunkte), angemessene Löhne (-5 Prozentpunkte) und Altersversorgung/Rente (-3 Prozentpunkte) sackte die Partei laut Daten von Infratest dimap ab. Waren 2017 noch 53 Prozent aller Wähler:innen davon überzeugt, dass die Linkspartei sich am stärksten für sozial Schwache einsetze, meinten vier Jahre später nur noch 43 Prozent als Wähler:innen, dass sich Die Linke am stärksten um den sozialen Ausgleich bemühe.
Es fehlte an einer klaren, langfristigen Vision, die die Anliegen der einkommensschwachen Bevölkerung mit den Anforderungen der sozial-ökologischen und digitalen Transformation verbinden konnte.
Hinzu kam eine ambivalente Grundstimmung in der Bevölkerung. Laut der Wahlstudie 2021 des rheingold instituts zogen sich viele Wählerinnen und Wähler in ihr "Schneckenhaus" zurück, überwältigt von globalen und nationalen Herausforderungen wie der Klimakrise und der Flutkatastrophe. Es bestand ein Machbarkeitsdilemma: Einerseits wurde der Bedarf an großen Veränderungen erkannt, andererseits schreckte man vor den damit verbundenen Einschränkungen zurück. Die Kandidatinnen und Kandidaten wurden als nicht ausreichend stark wahrgenommen, um diese Herausforderungen zu meistern. Dies führte zu einer Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung, da keine Führungspersönlichkeit vorhanden war, die den Veränderungsdruck hätte kanalisieren können.
In dieser Situation hatten aus Sicht des rheingold instituts „viele Wähler*innen die Linke nicht auf dem Schirm, und die Partei scheint in den Augen der Bürger*innen auch keine stimmige Strategie im Machbarkeits-Dilemma aufzuweisen.“ Weiter wurde ausgeführt:
„Das Spitzenpersonal ist selbst unter den Links-Wähler*innen kaum bekannt. Viele verbinden noch Gregor Gysi oder Sarah Wagenknecht mit der Partei. Insgesamt wirkt die Partei so führungs- und konzeptionslos. Lediglich die Stammwähler*innen bekennen sich klar zur Linken.
Mit einigen Forderungen wie dem Mindestlohn von 13 Euro kann die Linke zwar punkten, aber sie steht oft eher für „intellektuelle Realitätsferne“ oder „ideologischen Trotz“. So weckt sie weniger die Hoffnung nach sozialer Gerechtigkeit, als dass sie Verlustängste schüren. Eine von vielen potenziellen Links-Wähler*innen als notwendig erachtete Umverteilung wird derzeit durch die Sorge einer wirtschaftlichen Schwächung Deutschland überlagert.“
Zwar gaben bei der Bundestagswahl 2021 immerhin 44 Prozent aller von Infratest dimap Befragten an, dass man bei der Linken genau wisse, wofür sie steht (im Vergleich – Grüne: 56%, Union: 42% und SPD: 41%), waren nur knapp ein Drittel der Befragten (36 Prozent) der Befragten der Meinung, dass Die Linke vor der Wahl ehrlich sage, was sie nach der Wahl durchsetzen wolle. Im Hinblick auf den ehrlichen Umgang mit den eigenen Forderungen, sackte Die Linke 2021 um 4 Prozentpunkte gegenüber 2017 ab.
Die Infratest-dimap-Daten unterstrichen zudem regionale Differenzen. In den fünf ostdeutschen Flächenländern erreichte Die Linke nur in Thüringen (11,4 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (11,1 Prozent) zweistellige Ergebnisse. In Brandenburg blieb sie mit 8,5 Prozent sogar hinter den Grünen, die 9,0 Prozent erzielten. Im Durchschnitt lagen die Ergebnisse in den ostdeutschen Bundesländern bei lediglich 9,8 %. Diese Zahlen machten deutlich, dass die traditionelle Wählerbasis im Osten erodierte.
2024: Das Jahr der Niederlagen
Im Herbst 2023 gründete Sahra Wagenknecht endlich ihre eigene Partei, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Zuletzt ähnelte der Umgang Sahra Wagenknechts mit ihrer vormaligen Partei und der Bundestagsfraktion, der sie bis zuletzt angehörte, dem Verhalten derjenigen WG-Bewohnerin, die zwar die Miete nicht mehr zahlt, weil sie sowieso ausziehen will, sich aber noch aus den Kühlschrankfächern der Mitbewohner:innen bedient, über die sie aber öffentlich schlecht redet und vor denen sie potenzielle Nachmieter:innen mit derben Worten warnt.
Für die Partei DIE LINKE war die Trennung, wie ich damals analysierte, „ein herber Verlust und eine Befreiung zugleich. Die Ursache für die nun endgültige Trennung zwischen Sahra Wagenknecht und der Partei, die sie seit den frühen 1990er Jahren prägte, die eine jahrzehntelang schwierige Beziehung miteinander führten, liegt weder allein bei Sahra noch allein bei der Partei.“
Dass diese verkrachte Beziehung überhaupt solange hielt, war allein der gegenseitigen Abhängigkeit geschuldet. Wagenknecht bekam Öffentlichkeit als Partei-Dissidentin, die Partei verlor nicht noch mehr Ressourcen, Mandate und Öffentlichkeit. Andererseits wurde innerhalb der Linkspartei immer klarer, dass der Verlust an Erkennbarkeit, Politikfähigkeit, der Möglichkeit, offen über Fehler zu sprechen und Kurskorrekturen vorzunehmen, solange unmöglich ist, wie Sahra Wagenknecht und ihre Anhänger:innen bleiben, um die Partei als Wirtstier für ihre Parteineugründung zu nutzen.
Die politischen Ausgangsbedingungen des vergangenen Jahres waren also bereits Ende 2023 für Die Linke nicht rosig und die Stimmung in der Bevölkerung tat ihr Übriges. Rund acht von zehn Bundesdeutschen, so ermittelte infratest dimap im Januar 2024, sahen verunsichert auf das vor ihnen liegende Jahr. Nur für 13 Prozent von ihnen lieferten die Verhältnisse in Deutschland Anlass zur Zuversicht, wohingegen 83 Prozent sich beunruhigt äußerten. So wenig zuversichtlich waren die Bundesdeutschen laut dem DeutschlandTREND zuletzt vor rund 20 Jahren.
Das rheingold Institut in Köln kam in einer Untersuchung für die Identity Foundation aus dem Sommer 2023 zu ähnlichen Erkenntnissen. Weniger als ein Viertel der Befragten fand beim Blick auf die Politik Zuversicht, während jeder Sechste sich von den Krisenlagen der Gegenwart überfordert fühlte. Während zwei Drittel der Überzeugung waren, dass man in Deutschland den Lebensstandard wird nach unten korrigieren müssen, vertraute ein Drittel darauf, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse wieder verbessern.
Auf das als bedrohlich wahrgenommene Grundgefühl im Sinne einer gesellschaftlichen »Endzeitstimmung« reagierten die Bürger:innen mit Strategien der Verdrängung und dem Rückzug ins Private: „Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel oder die Migrationskrise werden von den meisten Menschen in ihrem Alltag ausgeblendet. […] Das wirkt wie ein Vorhang der Verdrängung, der das private Leben zusehends von der öffentlichen Sphäre trennt. Lediglich die für den persönlichen Alltag relevanten Themen wie Inflation, die Energiekrise oder die zunehmende Entzweiung der Gesellschaft kommen noch in die Wahrnehmung. […] Der Fokus der Bürger wird auf die Stabilisierung der eigenen Lebenswelt gerichtet. Die drängendsten Ängste haben die Menschen daher vor einem persönlichen Autonomieverlust. Die am Beginn der Coronakrise und des Ukrainekrieges erlebten Ohnmachtsgefühle sollen sich nicht wiederholen.“ (rheingold 2023)
Von dieser Stimmung profitierten zwei Parteien: Das BSW und die AfD.
Das BSW wurde zum Shooting Star der Wahlen 2024. Sowohl bei der Europawahl als auch den drei ostdeutschen Landtagswahlen startete die Partei, die je länger sie existierte, sich nicht als links, sondern autoritär populistische Formation entpuppte, enorm durch. Das BSW war im Wahljahr 2024 neben der AfD die zweite »Denkzettel«- und Protestwähler:innen-Partei. Ein Viertel der Thüringer BSW-Wählenden sowie je ein knappes Drittel derjenigen in Brandenburg und Sachsen hätte, wenn das BSW nicht zur Wahl gestanden hätte, die AfD gewählt.
Auf den Punkt gebracht wirkt das BSW wie der Todesstern der Linkspartei. Gewählt wurde das Bündnis in Thüringen zu 52 Prozent aus Enttäuschung über andere Parteien und in Sachsen zu 70 Prozent sowie in Brandenburg zu 63 Prozent aus Enttäuschung über die Linkspartei (infratest dimap). Das BSW gewann überdurchschnittlich in den Altersgruppen ab 60-Jahre und älter. Umgekehrt proportional waren die Verluste in diesem Alterssegment bei der Linken am stärksten.
Die AfD wurde in Thüringen bei der Landtagswahl erstmals stärkste Partei. In Brandenburg und Sachsen mit deutlichem Zuwachs jeweils zweitstärkste Partei. Sowohl in Potsdam als auch in Erfurt verfügen die Rechtsextremisten über die sogenannte Sperrminorität. In Sachsen verfehlte sie diese knapp um einen Sitz.
Die Linke wiederum verlor bei allen drei ostdeutschen Landtagswahlen deutlich. In Sachsen rettet sich die Partei mit zwei in Leipzig gewonnenen Direktmandaten in den Landtag, verfehlte die Fünfprozenthürde mit 4,5 Prozent aber deutlich. Ebenso wie Grünen und Freien Wählern blieb auch der Linken in Brandenburg der Rettungsanker Grundmandat verwehrt. Sie verlor knapp acht Prozentpunkte und schlug mit 2,98 Prozent so hart auf dem Boden auf, dass es noch lange weh tun wird. Auch in Thüringen wurde die letzte verbliebene linke Hochburg geschleift. Die Partei büßte trotz des extrem populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow knapp 18 Prozentpunkte ein. Nur wenige Male stürzten Parteien in vergleichbarer Weise ab.
Mehr als ein Drittel der von Infratest dimap befragten Wählenden in Thüringen waren der Auffassung, Die Linke würde „in der deutschen Politik nicht mehr gebraucht“. In dieser Stimmung stelle das Institut für Demoskopie Allensbach im FAZ-Monatsbericht aus dem September 2024 fest:
„Alle drei Parteien der Ampelkoalition haben bei Neuwahlen viel zu verlieren. Zusammen bringen sie es zurzeit gerade einmal auf 30 Prozent der Stimmen. SPD und Grüne haben seit der Wahl rund jeden dritten ihrer Wähler verloren, die FDP sogar annährend zwei Drittel. Die Grünen sind mit 10 Prozent nur noch knapp zweistellig, die FDP liefe Gefahr, den Wiedereinzug in den Bundestag zu verfehlen. Als weiterer Verlierer von Neuwahlen steht die Linke fest, die durch die erfolgreiche Abspaltung des BSW in die Bedeutungslosigkeit zu fallen droht.“
Bundestagswahl 2025: Totgesagte leben länger
Die politische Lage zwischen der Bundestagswahl 2021 und 2025 hat sich wesentlich verändert. Das rheingold institut analysierte vor vier Jahren ein Klima, das von Rückzug, Resignation und einem ausgeprägten Machbarkeits-Dilemma geprägt war. Die Menschen suchten einerseits nach einer starken Führungspersönlichkeit, die sie aus der als nahezu unlösbar empfundenen Situation herausführen konnte, stellten jedoch gleichzeitig fest, dass weder die etablierten Spitzenkandidaten noch ihre Parteien diese Rolle in vollem Umfang ausfüllen konnten. Auch die Positionen von Grünen, FDP, AfD und Linken spiegelten ein ambivalentes Bild wider, das in einem fast resignativen Stimmungsbild mündete.
Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 zeichnete sich hingegen ein deutlicher Wandel ab. Die rheingold Wahlstudie 2025 – „Was Deutschland wirklich bewegt“ legte offen, dass „die Stimmung vieler Wählender von starken Verlustgefühlen, Sorgen und Enttäuschung über die Politik geprägt [ist]. Die Konsequenzen einer stotternden Wirtschaft, fehlgesteuerter Migration und bröckelnder Infrastruktur dringen zunehmend in den Alltag ein und erzeugen das Gefühl, in einem Problemstau ohne Ausweg festzustecken. […] Der in den letzten Jahren praktizierte Rückzug in private Wohlfühl-Blasen funktioniert meist nicht mehr als Beruhigungsstrategie. Insgesamt wird das einst so erfolgreiche Vorzeigeland Deutschland als marode erlebt. Die Menschen zeigen sich in ihren Grundfesten erschüttert und haben kaum Zuversicht, dass sich die Lage durch einen Regierungswechsel verbessern wird.“
Die Wahl Donald Trumps in den USA verschiebt, so das Institut, nicht nur das deutsche Wunschprofil in eine konservative und mitunter radikalere Richtung nach dem Motto „Germany First“, sondern erzeugt auch bei vielen Wählenden eine Art „Angstfaszination“ vor Trump und der von ihm repräsentierten disruptiven und kompromisslosen Politik, die radikal mit dem Bestehenden bricht: der als bedrohlich wahrgenommene Stillstand weckt, so das rheingold institut, eine heimliche Sehnsuch nach Sprengung.
Noch einmal in den Worten des Instituts:
„Die Menschen haben derzeit wenig Zuversicht, dass sich die Lage durch einen Regierungswechsel ändern wird, es gibt derzeit keine Aufbruchstimmung im Land. Viele Wähler hatten sich in den letzten Jahren in einer Art Nachspielzeit eingerichtet. Sie hofften, die drohende Zeitenwende abzuwehren und die bestehenden Verhältnisse noch für einige Monate oder Jahre stabilisieren zu können.
Jetzt fürchten sie das Ende der Nachspielzeit. Das Grundgefühl vieler Wähler ist von starken Verlustgefühlen geprägt. „Es wird nicht besser werden.“
Die stotternde Wirtschaft und die Haushaltsdebatten der letzten Monate haben den Wählenden zudem verdeutlicht, dass nicht genug Geld zur Verfügung steht. Die knappen Kassen befeuern Verlustängste und führen zu erbitterten Verteilungskämpfen.“
Legt man den FAZ-Monatsbericht des Allensbach-Instituts aus dem November 2024 zugrunde, hielten 61 Prozent der Befragten die wirtschaftliche Lage nicht für eine vorübergehende Schwächephase, sondern für einen tiefgreifenden Umbruch, der ganze Industriezweige bedroht. Im Vergleich zu 2019, als noch 74 Prozent die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft als Stärke des Landes ansahen, sank dieser Wert bis 2024 auf 42 Prozent. Parallel dazu nahm auch das Vertrauen in die Standortbedingungen von 66 v auf 35 Prozent ab. Besonders hoch wurden Energiekosten, überbordende Bürokratie und Genehmigungsverfahren als Standortnachteile genannt.
Dennoch zeigte sich eine bemerkenswerte Diskrepanz: Während 44 Prozent der Bevölkerung davon ausgingen, dass Deutschland seinen wirtschaftlichen Zenit überschritten hat, blieb die persönliche Betroffenheit gering. Nur 8 Prozent der Erwerbstätigen fürchteten um ihren Arbeitsplatz – ein deutlich geringerer Wert als während der Finanzkrise 2008/09 oder 2005, als jeweils bis zu 38 Prozent um ihre Anstellung bangten. Gleichzeitig bewerteten 57 Prozent der Bevölkerung ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut – ein höherer Wert als 2019.
Dieses paradoxe Stimmungsbild hatte erhebliche Auswirkungen auf die politische Bewertung der Regierung. 89 Prozent der Bevölkerung waren überzeugt, dass die Politik eine entscheidende Rolle für die wirtschaftliche Entwicklung spielt, jedoch hielten 60 Prozent die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Ampel für unzureichend. Besonders deutlich wurde die Kritik an den Grünen, denen nur 2 Prozent der Bevölkerung wirtschaftliche Kompetenz zusprachen. Auch die SPD schnitt mit 7 Prozent schlecht ab, während die Union mit 31 Prozent als kompetenteste Kraft galt. Die Wahrnehmung der Grünen als wirtschaftsferne Partei setzte sich fort: Nur 33 Prozent ihrer Anhänger hielten eine starke Wirtschaft für ein zentrales Zukunftsthema, verglichen mit 55 % in der Gesamtbevölkerung.
Trotz dieser Kritik war die wirtschaftliche Unsicherheit nicht das einzige wahlentscheidende Thema. Migration, innere Sicherheit und die politische Stabilität spielten eine ebenso wichtige Rolle. Dennoch erwarteten 55 Prozent der Befragten, dass ein Regierungswechsel die Wirtschaft positiv beeinflussen würde – ein klarer Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Ampelkoalition.
Linke Wahlalternative in der Migrationsdebatte
Thematisch war der Wahlkampf nicht geprägt von einer Auseinandersetzung um die wirtschaftliche oder soziale Entwicklung Deutschlands, sondern vom Thema Migration in Verbindung mit dem Thema Innere Sicherheit aufgrund der Anschläge u.a. in Augsburg und Magdeburg. Während andere Parteien restriktivere Maßnahmen forderten, blieb Die Linke bei ihrem liberalen Ansatz in der Migrations- und Asylpolitik. Dies machte sie zur einzigen wählbaren Alternative für Wähler:innen, die sich gegen eine Verschärfung der Migrationspolitik aussprachen.
Es ist insoweit nicht überraschend, dass laut Infratest dimap, 86 Prozent derjenigen, die bei dieser Wahl Die Linke wählten, meinten: „Finde es gut, dass sie sich am stärksten für eine humane Asyl- und Flüchtlingspolitik einsetzt“. Diese Auffassung vertraten mit 36 Prozent mehr als ein Drittel aller Wählenden dieser Bundestagswahl.
Wahlentscheidende Themen allgemein
Im Ergebnis der Bundestagswahl 2025 spielten wirtschaftliche Sorgen zwar eine bedeutsame, möglicherweise aber nicht wahlentscheidende Rolle, da die Wähler:innen nicht allein aufgrund ihrer persönlichen wirtschaftlichen Lage, stimmten. Für die Wahlentscheidung die größte Rolle spielten, basierend auf den Daten von Infratest dimap, die Innere Sicherheit und die soziale Sicherheit mit jeweils 18 Prozent, gefolgt von der Zuwanderung und dem Wirtschaftswachstum mit je 15 Prozent. Erst danach folgten Umwelt und Klima sowie die Friedenssicherung mit jeweils 13 Prozent. Die aufgrund der Inflation gestiegenen Preise folgen mit großem Abstand und 5 Prozent.
Linkes Top-Thema: Soziale Sicherheit
Für die Wähler:innen der Linken spielte mit 51 Prozent die soziale Sicherheit die größte Rolle bei der Wahlentscheidung (zum Vergleich – SPD: 38 Prozent, Grüne: 11 Prozent). Die Soziale Sicherheit ist mit 19 Prozent auch für die Gruppe der 18-34-jährigen Wähler:innen das bedeutsamste Thema, also derjenigen Wähler:innengruppe, die bei dieser Bundestagswahl am stärksten für Die Linke votierte.
Dass sich Die Linke „am stärksten um sozialen Ausgleich bemüht“, fanden 47 Prozent aller Wählenden. Das entspricht zwar einem Plus von 6 Prozentpunkten gegenüber der Bundestagswahl 2021, dennoch liegt dieser Wert unter den 53 Prozent bei der Bundestagswahl 2017. Von den Wähler:innen der Linken sind wiederum 94 Prozent der Auffassung, dass sich die Partei am stärksten um sozialen Ausgleich bemühe.
Mit großem Abstand folgen als linke wahlentscheidende Themen: Umwelt und Klima (18 Prozent) und dann wiederum mit Abstand die Innere Sicherheit (9 Prozent) sowie die Friedenssicherung mit 8 Prozent (zum Vergleich – SPD: 22 Prozent).
Die gestiegenen Preise, auf die sich Die Linke im Wahlkampf stark bezogen hatte, spielten bei der Wahlentscheidung, wie bereits dargelegt, mit 5 Prozent bei allen Wähler:innen nur eine nachgeordnete Rolle. Auch für die linken Wähler:innen mit 5 Prozent und damit weniger als für Wähler:innen der Union (7 Prozent), der AfD (6 Prozent) aber mehr als für SPD-Wähler:innen (3 Prozent).
Sorgen der Linke-Wähler:innen
Dass Demokratie und Rechtsstaat in Gefahr sind, besorgt nach Infratest dimap 84 Prozent der Linke-Wähler:innen. Fast genauso hoch ist die Sorge, dass der Klimawandel unsere Lebensgrundlage zerstört (82 Prozent).
Zu je 72 Prozent sorgen sich die Linke-Wähler:innen darum, dass der Einfluss Russlands auf Europa weiter zunimmt und Deutschland Trump sowie Putin schutzlos ausgeliefert ist.
Zwei Drittel der Linke-Wähler:innen (66 Prozent) sind besorgt, dass in dieser Situation Deutschland nach der Bundestagswahl keine stabile Regierung erhält.
Zu je 60 Prozent besorgen soziale Themen die Linke-Wähler:innen und zwar, dass „ich im Alter Geldprobleme haben werde“ sowie ein so starker Preisanstieg, „dass ich meine Rechnungen nicht bezahlen kann“. Zu 42 Prozent sind die Linke-Wähler:innen besorgt, dass der eigene Lebensstandard künftig nicht gehalten werden kann.
Wahlentscheidung für Die Linke aus Überzeugung, nicht Enttäuschung
Bezogen auf alle Wähler:innen aller Parteien bei dieser Bundestagswahl erfolgte die Wahlentscheidung laut Infratest dimap zu 35 Prozent aus Enttäuschung und zu 59 Prozent aus Überzeugung.
Nimmt man die drei Parteien Die Linke, AfD und BSW stellen sich die Werte hingegen sehr unterschiedlich dar:
- Bei der Linkspartei erfolgt die Wahlentscheidung zu etwas mehr als eine Viertel (27 Prozent) aus Enttäuschung, während mehr als zwei Drittel (69 Prozent) aus Überzeugung für die Partei stimmten.
- Bei der AfD wählten mehr als ein Drittel (39 Prozent) aus Enttäuschung und etwas mehr als die Hälfte (54 Prozent) aus Überzeugung rechtsextrem.
- Das BSW wird zu mehr als der Hälfte (52 Prozent) aus Enttäuschung und zu 44 Prozent aus Überzeugung gewählt.
Alternative für ehemalige SPD- und Grünen-Wähler:innen
Ich habe oben dargelegt, dass Die Linke bei der vergangenen Bundestagswahl mehr als die Hälfte der Wähler:innen, die sich von ihr abwandten, an SPD und Grüne verloren hatte. Die Gründe lagen auch in der Unfähigkeit der Linken seinerzeit, deutlich zu machen, dass sie bereit ist, für eine progressive Mehrheit Gestaltungsverantwortung zu übernehmen.
Die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP haben bei dieser Bundestagswahl herbe Verluste einstecken müssen. Die Grünen prozentual am wenigsten, die SPD am stärksten, während für die FDP der mögliche Auszug aus dem Bundestag noch schwerer wiegen dürfte. Wenngleich die SPD das niedrigste Wahlergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte einfuhr.
Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Analyse liegen noch keine Wähler:innenstromanalysen vor. Deshalb ist zunächst nicht mehr festzuhalten, als das bei den Ansichten über die eigene Partei mit 95 Prozent die Aussage, dass Die Linke „eine gute Alternative für alle [sei], die sich bei SPD und Grünen nicht mehr aufgehoben fühlen“, am stärksten abschnitt. Diese Auffassung vertreten wiederum auch 41 Prozent aller Wählenden, von Infratest dimap nach ihrer Meinung über Die Linke gefragt.
Wie unten bei der Betrachtung der Wähler:innenwanderung gezeigt wird, erhielt Die Linke ca. 600.00 Wähler:innen von den Grünen und weitere ca. 540.000 Wähler:innen von der SPD.
Linke nicht mehr die Partei der Ostdeutschen
Im Jahre 2006 wiesen die sogenannten Sinus-Milieus noch eine Gruppe von ca. 6 Prozent auf, die als „DDR-Nostalgische“ bezeichnet wurden. Dieses Milieu sah insbesondere in der PDS bzw. der Ost-Linken ihre Repräsentanz. Dieses Milieu löste sich über den Verlauf der vergangenen knapp 20 Jahre als eigenständiges Milieu auf – und damit auch als eine adressierbare gesellschaftliche Gruppe.
Bei der Bundestagswahl 2021 gaben 38 Prozent der von Infratest dimap befragten Ostdeutschen an, Die Linke „vertritt am ehesten meine Interessen“. Dies war der höchste Parteienwert. Demgegenüber hat Die Linke massiv eingebüßt. Nach Daten von Infratest dimap sahen 24 Prozent die AfD als diejenige Partei, der sie am ehesten zutrauen, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten. Erst danach folgt mit 19 Prozent Die Linke, gefolgt von Union (12 Prozent) sowie SPD (11 Prozent) und dem BSW mit 8 Prozent. Immerhin 19 Prozent trauen dies keiner Partei zu.
Diese Differenz verschleiert jedoch den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse in Ostdeutschland. Von den ostdeutschen Wahlkreisen gewinnt Die Linke vier. Die Grünen haben in Berlin-Pankow und Berlin-Mitte (Ost-West-Wahlkreis) die Oberhand und Bundeskanzler Scholz gewinnt seinen Wahlkreis in und um Potsdam. Mit Ausnahme dieser sieben Wahlkreise gehen alle anderen ostdeutschen Wahlbezirke an die AfD. Dort erzielt AfD-Chef Crupalla in Sachsen in seinem Wahlbezirk mehr als 50 Prozent, ebenfalls in Sachsen erlangt Maximilian Krah ein Ergebnis von 45 Prozent. Die AfD ist in Ostdeutschland Volkspartei.
Die neue Linkspartei
Sicherlich wird es in den sozialen Netzwerken weiterhin Menschen geben, die von der Linkspartei als der ehemaligen SED sprechen. Die Linke war von dieser Vergangenheit noch nie so weit entfernt wie nach dieser Bundestagswahl 2025.
Die Partei Die Linke gewann seit Beginn dieses Jahres mehr als 31.000 Mitglieder. Dies entspricht nicht weniger als einem Drittel der Gesamtmitgliedschaft der Partei. Diese Mitgliederentwicklung setzt auf einem von mir bereits im Jahr 2022 analysierten Veränderungsprozess auf, der in der öffentlichen Wahrnehmung meines Erachtens viel zu wenig wahrgenommen wurde und nach der Trennung des Wagenknecht-Flügels mit dem BSW nunmehr die Tür für eine faktisch bereits vollzogene aber politisch-inhaltlich und strategisch durch die Partei erst noch zu durchdringende Neugründung von unten geöffnet hat.
Wer wie ich seinerzeit im Jahr 2022 auf die absoluten Zahlen der Mitgliederentwicklung der Linken sah, konstatierte, dass die Linkspartei in Dekade zuvor knapp 9.000 Mitglieder (2011: 69.458 Mitglieder, 2021: 60.670) verloren hatte. Der Wandel war jedoch noch tiefgreifender:
- 26.231 Mitglieder traten zwischen 2011 und 2021 aus der Partei aus. Davon waren rund 14.500 Mitglieder zwischen 60 und älter als 81 Jahre (diese Austritte waren häufig gar nicht politisch motiviert. Vielmehr kündigten die Angehörigen alter Mitglieder, die pflegebedürftig wurden, mit Abonnements, Wohnung etc. auch die Mitgliedschaften),
- etwas mehr als 14.500 Mitglieder verstarben im Zeitraum 2011 bis 2021 und
- 31.541 Mitglieder, also mehr als die Hälfte der Mitgliedschaft des Jahres 2022, traten der Partei seit 2011 bei.
Von diesen 31.541 Mitgliedern waren mit Stand Ende 2021 knapp 21.000 Mitglieder, dies entsprach einem Drittel der Gesamtmitgliedschaft im Alter zwischen 14 und 40 Jahren.
Im Vergleich der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien (ohne AfD) verzeichnete DIE LINKE – bezogen auf den Zeitraum 2008 bis 2019 – die höchste Zahl an Sterbefällen und gewann gleichzeitig überproportional viele junge Mitglieder.
Dieser Generationswechsel vollzieht sich ungleichmäßig sowohl zwischen Ost und West als auch zwischen urbanem und ländlichem Raum. Die ostdeutschen Landesverbände verlieren stärker von hohen Mitgliederzahlen kommend, während die westdeutschen Landesverbände auf niedrigerem Niveau anwachsen und – bezogen auf die Gesamtmitglieder – signifikant jünger sind als in den nicht mehr so neuen Ländern.
Dieser Wandel fand wiederum innerhalb eines Veränderungsprozesses in den gesellschaftlichen Milieus statt und hatte ebenfalls Wirkung auf die Linkspartei und die sie wählenden Milieus.
Entscheidend ist deshalb, sich diesen fundamentalen Wandel im Parteihaus DIE LINKE und in dem sie tragenden gesellschaftlichen Umfeld vor Augen zu führen.
Für die Bundestagswahl 2025 bedeutet dies zum Beispiel, dass mit 9 Prozent die langfristige Parteibindung bei den Linke-Wähler:innen fast am geringsten ausgeprägt ist. Nur die AfD liegt mit 8 Prozent darunter. Im Vergleich die anderen Parteien: SPD - 26 Prozent, Union - 18 Prozent, Grüne - 16 Prozent, FDP - 14 Prozent.
Die Bedeutung des Programms der Partei ist hingegen bei den Linke-Wähler:innen mit 79 Prozent mit Abstand zu allen anderen Parteien „wichtig für die Wahlentscheidung“. Im Vergleich die anderen Parteien: FDP – 71 Prozent, Grüne – 69 Prozent, AfD – 66 Prozent, Union - 58 Prozent, SPD – 52 Prozent.
Wähler:innen der Linken
Die Linke schnitt vor allem bei jungen Menschen und Arbeitslosen besonders stark ab. Der linke Stimmanteil bei den Erstwählenden stieg im Vergleich zu 2021 um 19 Prozentpunkte. Die 18- bis 24-Jährigen stellten mit einem Anteil von 27 Prozent die führende Altersgruppe dar, gefolgt von den 25- bis 34-Jährigen, die 16 Prozent der Linken-Stimmen beitrugen – beide Werte lagen deutlich über dem Gesamtergebnis von ca. 9 Prozent.
Auch bei den Berufsgruppen fielen markante Unterschiede auf: Während Arbeiter:innen und Angestellte moderat mit 8 Prozent beziehungsweise 9 Prozent für Die Linke stimmten, schnitt sie bei den Arbeitslosen mit 12 Prozent am besten ab. Selbständige zeigten mit 6 Prozent und Rentner:innen mit 4 Prozent geringere Zustimmungswerte, was verdeutlicht, dass die Linke vor allem von jenen gewählt wurde, die in prekären oder weniger gesicherten Berufssituationen sind.
Mit einem Anteil von 10 Prozent unterstützten Frauen Die Linke stärker als Männer, deren Stimmanteil lediglich 7 Prozent ausmacht. Infratest dimap stellte das Wahlverhalten in Bevölkerungsgruppen gegenüber. So z.B. „Jüngere Frauen in Städten“ vs. „Ältere Männer auf dem Land“. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass die jüngeren Frauen in den Städten zu 35 Prozent für Die Linke stimmten, gefolgt von 20 Prozent für die Grünen. Die älteren Männer auf dem Land wiederum wählten zu 41 Prozent die Unionsparteien CDU/CSU und zu je 19 Prozent SPD und AfD, während nur 4 Prozent der älteren Männer auf dem Land der Linkspartei ihre Stimme gaben.
Insgesamt zeigt sich, dass junge Wählende, Arbeitslose und Frauen zu den Hauptstützpfeilern der Linken bei dieser Bundestagswahl zählten.
Regionale Ergebnisse
Es wurde eingangs bereits angesprochen. Die Linke gewinnt in sechs Wahlkreisen das Direktmandat. Erstmals wird sie mit dem Wahlkreis 081, Berlin-Neukölln in einem früheren West-Berliner Stimmbezirk sowohl stärkste Kraft bei den Erst- als auch den Zweitstimmen.
Gewonnene Direktmandate BTW 2025 |
|||
Wahlkreis |
Kandidat:in |
Erststimmen |
Zweitstimmen |
081 Berlin – Neukölln |
Ferat Koçak |
30,0 % |
25,3 % |
082 Berlin – Friedrichshain-Kreuzberg – Prenzlauer Berg |
Pascal Meiser |
34,7 % |
31,7 % |
083 Berlin – Treptow-Köpenick |
Gregor Gysi |
41,8 % |
21,7 % |
085 Berlin – Lichtenberg |
Ines Schwerdtner |
34,0 % |
23,5 % |
152 Sachsen – Leipzig II |
Sören Pellmann |
36,8 % |
23,9 % |
192 Thüringen – Erfurt – Weimar – Weimarer Land II |
Bodo Ramelow |
36,8 % |
22,1 % |
Eigene Zusammenstellung auf Basis Bundeswahlleiterin |
Auch bei dieser Bundestagswahl bestätigt sich der bereits aus früheren Wahlen erkennbare Trend: Die ehemaligen Hochburgen in den ostdeutschen Ländern, die mit großem Abstand vor den westlichen Bundesländern lagen, egalisieren sich – mit Ausnahme Berlins.
Die Zustimmung zur Linkspartei in Berlin ähnelt dem JoJo-Effekt vor und nach einer Diät (und das ist keine Anspielung auf Oppositions- oder Regierungspolitik): Es geht mit großen Sprüngen hinauf und hinab. Bei dieser Wahl wird die Partei – erstmals – stärkste politische Kraft in der Stadt, und zwar sowohl bei den Erst- als auch den Zweitstimmen. Sie erreicht über 20 Prozent.
Mit Abstand und einem Wert von ca. 15 Prozent bzw. jeweils etwas mehr als 14 Prozent erreicht die Partei in Thüringen und den beiden westdeutschen Stadtstaaten Bremen (Regierungsbeteiligung) sowie Hamburg ihr zweitbestes und die drittbesten Ergebnisse. Das Hamburger Ergebnis lässt auch für die in einer Woche stattfindende Bürgerschaftswahl gute Ergebnisse vermuten, wenngleich die Regionalspezifik der Bürgerschaftswahl kein identisches Ergebnis erwarten lässt. Die Umfragen gehen von Werten um die 8-9 Prozent aus, was ungefähr der vergangenen Bürgerschaftswahl entspräche.
In den anderen vier ostdeutschen Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen erreicht Die Linke jeweils um die 10 Prozent. Das ist verglichen mit den Werten der vergangenen Landtagswahlen im Herbst 2024 eine Verdoppelung in Brandenburg und Sachsen.
Die Werte der übrigen westdeutschen Länder sind nachfolgender Tabelle zu entnehmen.
Prozentuale Ergebnisse Die Linke BTW 2025 - West |
||
Bundesland |
Erststimme |
Zweitstimme |
Baden-Württemberg |
5,7 % |
6,7 % |
Bayern |
4,6 % |
5,7 % |
Hessen |
7,2 % |
8,7 % |
Niedersachsen |
6,7 % |
8,2 % |
Nordrhein-Westfalen |
6,4 % |
7,9 % |
Rheinland-Pfalz |
5,1 % |
6,5 % |
Saarland |
6,9 % |
7,3 % |
Schleswig-Holstein |
5,9 % |
7,2 % |
Eigene Zusammenstellung auf Basis Bundeswahlleiterin |
Wähler:innenwanderung
Das Wanderungsmodell von infratest dimap schätzt, wie das Institut auf seiner Webseite mitteilt, „den Umfang von Wanderungsströmen. Dargestellt werden die Salden für den Austausch zwischen den Parteien sowie dem Nichtwählerlager. Grundlage sind amtliche Statistiken, repräsentative Umfragen vor der Wahl und am Wahltag sowie das Ergebnis der vorläufigen Auszählung am Wahlsonntag. Die Schätzung der Wanderungsströme ändert sich im Laufe des Wahlabends mehrmals (Zwischenstände), weil zunächst vorrangig die repräsentativen Umfragen und später verstärkt Auszählungsergebnisse in die dargestellten Zahlen einfließen. Nach Veröffentlichung des vorläufigen Ergebnisses wird eine abschließende Schätzung vorgenommen und veröffentlicht.“
Unter diesem Vorbehalt lässt sich mit Stand 01:00 Uhr (24.02.2025) festhalten, dass Die Linke ca. 600.00 Wähler:innen von den Grünen und weitere ca. 540.000 Wähler:innen von der SPD erhielt. Aus dem Lager der Nichtwähler:innen konnte Die Linke ca. 320.000 Wähler:innen mobilisieren und von der FDP 90.000 sowie den Unionsparteien 60.000 Wähler:innen.
An die AfD verlor die Partei rund 100.000 Wähler:innen, weitere 340.000 Wähler:innen wechselten zum BSW. Letzteres scheint mit 4,972 Prozent der Zweitstimmen an der 5-Prozenthürde zu scheitern.
Zum Schluss: Alle gemeinsam. Niemals allein.
Tom Strohschneider formuliert in seiner Betrachtung des Wahlabends „Ein anderes Land, eine andere Partei“ treffend: „Dass der Weltgeist einen gewissen Humor hat, beweist das Ergebnis der Linken und das des BSW, deren Protagonisten nun bei jenen 4,9 Prozent gelandet sind, auf welche sie zuvor, noch als Mitglieder der Linken, diese durch ihr Agieren heruntergedrückt haben.“
Über die genauen Ursachen des überraschend starken Wahlergebnisses der Linken wird in den kommenden Tagen und Wochen intensiv geforscht werden. Tom Strohschneider schreibt:
„Man wird jetzt erleben, dass der Erfolg der Linkspartei auf je solche Gründe hin untersucht wird, die zu dem passen, was man zuvor schon für das Richtige gehalten hatte: Konzentration auf wenige, soziale Kernthemen, Performance im digitalen Wahlkampf, Befreiung von Wagenknecht, Abertausende Haustüren.“
In gewisser Hinsicht ist der Beitrag „Guess who’s back: Die Linke ist zurück, weil sie an sich glaubt“ von Elsa Koester, stellv. Chefredakteurin der Wochenzeitung „Freitag“, dafür ein gutes Beispiel. Sie verortet die Wiederauferstehung der Linken bereits vor zehn Jahren. Denn 2016 habe Die Linke mit dem Konzept „Haustürwahlkampf“ begonnen und es seither systematisch ausgebaut. Nun endlich habe es gewirkt.
Das ist ein weiter Rückgriff und die solitäre Erklärung: „Der Haustürwahlkampf war der Garant des Erfolgs“ greift meines Erachtens ebenso zu kurz wie die gebetsmühlenartige Wiederholung des Erfolgsrezepts der Kommunistischen Partei Österreich, die eben – anders als Die Linke – es bislang nie aus ihren Hochburgen in den Nationalrat schaffte. Unterschlagen werden bei dieser monokausalen Erklärung alle diejenigen Handlungen der Linken, die im eingangs beschriebenen Rückblick auf die vergangenen Jahre dazu beitrugen, dass Die Linke vor einiger Zeit noch klinisch tot war.
Es muss also mehr dahinterstecken und hier ist wiederum Elsa Koesters Feststellung zuzustimmen: „Die Linke übernimmt gerade Verantwortung, vielleicht mehr als manch andere Partei. Sie hat sich vom Populismus abgewandt und ist in sich gegangen, und in sich, das bedeutet: an die Basis und in die Gesellschaft hinein. […] Die Linke scheint wieder an das zu glauben, was sie sagt und tut. Sie stellt keine leeren Phrasen in den Raum, sondern sie hat die Wünsche, Ängste, Hoffnungen von Zigtausenden Menschen in Deutschland in ihrem Rücken, mit denen sie gesprochen hat. Sie weiß, was die Menschen brauchen, und das ist es, was ihren Spin schreibt. Kein Hochschulseminar zu sozialer Ungleichheit. Kein Spindoktor. Keine PR-Beratung. Sondern die Verankerung an der Basis. Die Linke weiß, dass die Menschen das brauchen, was sie sagt – das ist neu. Und das spürt man.“
Gleichzeitig ist auch dies vermutlich nur ein Teil der Wahrheit. Hinzu kommen Bedingungen, die sich keine Partei – ob an der Basis verankert oder nicht – selbst aussuchen kann.
Nach Tom Strohschneider verdankt Die Linke ihren Wahlerfolg einer Situation, die sie selbst nicht hergestellt hat und im Grunde auch nicht wollen konnte: als einzige Partei nicht so zu sprechen, dass sie „wie ein Echo der AfD“ klingt:
„Ein Echo ist nicht dasselbe wie Im-Chor-Singen. Es bringt ja nichts, keine Unterschiede mehr zwischen CDU, Grünen und AfD zu sehen. Es geht darum, dass sich alle Parteien auf eine Beschreibung der Wirklichkeit eingelassen haben, die fast nur noch »Migrationsprobleme« sehen wollte.
Dagegen ist die Linkspartei als Haltungspartei aufgetreten. Es waren nicht so sehr ihre konkreten Forderungen in Sachen Asyl, Einwanderung etc., sondern es war die Glaubwürdigkeit, nicht in den Zug der anderen zu steigen, sondern auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig zu bleiben, um zu zeigen, dass man auch in die Gegenrichtung unterwegs sein kann. Das Bedürfnis nach dieser Alternative war nicht zuletzt unter früheren Wählerinnen von SPD und Grünen vorhanden. Dass die Linkspartei nicht nur »wegen« (Haltung, Soziales), sondern auch »trotz« etwas (Außen- und Sicherheitspolitik) gewählt wurde, kann man in den Bekundungen jener nachlesen, die diesmal die Linke angekreuzt haben.“
Dieser neuen Linken werden sich ziemlich zügig neue Herausforderungen stellen, auf die sie wird reagieren müssen. Angetreten mit dem Anspruch „Alle wollen regieren, wir wollen verändern“, muss sie zeigen, welche Veränderung als Gestaltungspolitik auch aus der Opposition heraus möglich ist.
Verfassungsänderungen künftig nur mit der Linken möglich
Die Unionsparteien haben mit SPD und den Grünen keine verfassungsändernde Mehrheit mehr. Sie sind z.B. für die Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz auf die Stimmen der Linken angewiesen. Denn eine Verfassungsänderung mit den Stimmen der AfD dürfte trotz Friedrich Merz undenkbar sein. Für Die Linke entsteht aus dieser Situation ein großer Einfluss auf praktische Politik. Ihn gilt es klug zu nutzen, ohne in alte dichotome Muster „Reform oder Revolution“ zu verfallen.
Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen der einfachen Zweidrittelmehrheit (zwei Drittel der abgegebenen Stimmen) und der absoluten Zweidrittelmehrheit (zwei Drittel aller Mitglieder des Bundestages). Im Übrigen sind im Deutschen Bundestag Zweidrittelmehrheiten für folgende Fälle nötig:
- Verfassungsänderungen: Für Änderungen des Grundgesetzes ist eine absolute Zweidrittelmehrheit erforderlich. Das bedeutet, dass mindestens zwei Drittel aller Mitglieder des Bundestages zustimmen müssen.
- Feststellung des Verteidigungsfalls: Der Bundestag kann den Verteidigungsfall mit einer einfachen Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber der Mehrheit seiner Mitglieder, feststellen.
- Absetzung des Bundeskanzlers im Verteidigungsfall: Wenn der Bundestag verhindert ist, kann der Gemeinsame Ausschuss den Bundeskanzler mit einer absoluten Zweidrittelmehrheit seiner Mitglieder durch Neuwahl eines Nachfolgers absetzen.
- Eilbedürftige Gesetzgebung: Der Bundestag kann mit einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder beschließen, ohne Ausschussüberweisung direkt in die zweite und dritte Beratung einer als besonders eilbedürftig bezeichneten Regierungsvorlage einzutreten.
- Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates: In bestimmten Fällen ist eine einfache Zweidrittelmehrheit erforderlich, um einen Einspruch des Bundesrates gegen ein Gesetz zurückzuweisen.
Wer sind die Neuen?
Die neue Linke hat, wie Tom Strohschneider feststellt, nicht automatisch dieselben alten Probleme. Wünschenswert wäre sogar, wenn die bisherigen Strömungen der Partei gemeinsam oder jede für sich die Entscheidung treffen würden, sich entweder aufzulösen oder in eine Denkpause einzutreten, in denen sie auch prüfen, ob und welche Existenzberechtigung sie in dieser neuen Partei haben.
Denn alte Fragen stellen sich nunmehr vollkommen neu und neue Fragen kommen hinzu, auf die alte Lösungen nicht mehr passen. Gleichwohl ist es, wie Strohschneider beschreibt:
„nicht unwahrscheinlich, dass sie sich ganz ähnliche Fragen wird stellen müssen. Einfach deshalb, weil es die Fragen der Stunden sein werden. Viele Fragen gehören dazu, die sich auch andere, nicht parteigebundende Linke stellen werden müssen. Aber auf die Suche nach Antworten macht sich nun eben auch eine neue Partei.
Dass diese neue Partei nun zuerst ihr Neu-Sein als Herausforderung annehmen wird, erscheint nachvollziehbar. Wo die noch alte Linkspartei eben an den Haustüren von den Leuten zu erfahren suchte, was deren Themen sind, muss die neue Linkspartei nun von ihren Mitgliedern in Erfahrung bringen: Was wollen wir eigentlich sein? Was können, was müssen wir sein – »in diesem anderen Land«?“
Die Linke hat bei der Bundestagswahl 2025 gezeitgt, dass sie aus der »politischen Insolvenz« in Eigenverwaltung erfolgreich herauskommen kann. Das bedeutet nicht weniger als einen Bruch. Radikal und kompromisslos. Auf die früher erfolgreichen Evergreens, Alleinstellungsmerkmale und die anderen verschiedenen »Zurücks« können wir nicht mehr vertrauen.
Die neue Linke ist ein nunmehr ein politisches Start-up mit langer Traditionslinie. Sie ist das Gegenteil der Olympia Schreibmaschine Wilhelmshaven:
„Olympia Schreibmaschinen« in Wilhelmshaven befand einst, der Computer werde keine Konkurrenz für die bewährte Schreibmaschine sein. Heute siedeln auf dem ehemaligen Fabrikgelände neue Firmen aus anderen Branchen.“
Die neue Linke versucht sicherlich nicht, wieder elektronische Schreibmaschinen auf den Markt zu werfen. Sie hat ein neues Selbstverständnis. Nun braucht es ein langfristig angelegtes neues »Geschäftsmodell« und neue Arbeitsweisen bei ernsthafter Gemeindearbeit zur Wiedererlangung und Stabilisierung sozialen Kapitals, was eigentlich in der Regel mit dem nur bedingt hilfreichen Bezug auf die KPÖ gemeint ist. Dafür einen Grundwerteprozess mit den Mitgliedern zu beginnen, partizipativ, wertschätzend und solidarisch, der wiederum ausstrahlt nach außen, dürfte der nächste Schritt sein, den diese Partei gehen wird.
Persönlich würde ich mir wünschen, dass Die neue Linke dabei bleibt, wie im Bundestagswahlkampf ein weites plurales progressives Verständnis zu artikulieren. Es war das Gegenteil der dissozialen Bemühungen um »Alleinstellungsmerkmale« mit dem daraus abgeleiteten und häufig überhobenen Wahrheitsanspruch einerseits und dem Bemühen andererseits, statt eine plurale, progressive gesellschaftliche Koalition zu schmieden, die jeweilige politische Konkurrenz der Rechtsabweichung zu überführen.
Die Bereitschaft, Progressivität als Vielfalt nicht nur zu verstehen, sondern auch zu leben – auch um den Preis, die eigene politische Individualität einzubetten in ein »progressives Wir«, das macht Die neue Linke so attraktiv.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.