The World Turned Upside Down
Was verbindet den Deutschen Bauernkrieg mit einer Hippie-Kommune in San Francisco? Die englische Digger-Bewegung 1649 besetzte brachliegendes Land und interpretierte die Abschaffung des Privateigentums als Gottes Willen. Wie der deutsche Thomas Müntzer begründete der Engländer Gerrard Winstanley seine radikalen gesellschaftlichen Vorstellungen theologisch und sah in Gott eine Quelle für soziale Gerechtigkeit. Nicht vornehmlich religiös motiviert aber in der historischen Tradition sahen sich die Diggers der 1960er Jahre in San Francisco, die Gratisläden einrichteten und eine geldlose Gegenkultur propagierten. Radikale Visionen von Freiheit und Gleichheit prägten politische Bewegungen und hinterließen Spuren in Musik, Literatur und Film – von Billy Bragg bis Game of Thrones.
Zum 500. Mal jährt sich 2025 der Deutsche Bauernkrieg. Eine Vielzahl von Ausstellungen, insbesondere in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Bayern widmet sich diesem historischen Ereignis, das der Journalist und Kolumnist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung als eine der Wurzeln und den Ursprung unserer Demokratie in Deutschland beschreibt.
Für meinen Podcast KUNST DER FREIHEIT sprach ich jüngst ausführlich mit dem Historiker Dr. Thomas T. Müller, Vorstand und Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten mit fünf musealen Standorten in Wittenberg, Eisleben und Mansfeld in Sachsen-Anhalt, über Ursachen sowie Wirkungen des Bauernkriegs und warum Fragen wie z.B. nach dem Zugang zu Wasserrechten heute noch relevant sind.
Er weist in dem Gespräch darauf hin, dass der Aufstand in den Jahren 1524/25, in Teilen noch bis 1526, keine Singularität darstellt. Agrarische Aufstände gab es in den Jahrzehnten und Jahrhunderten davor – und auch danach. Sie beeinflussen unsere kollektive Erinnerung bis heute, obwohl wir uns diesen Bezügen heute vielfach nicht mehr bewusst sein. Ihr Einfluss auf Literatur oder Musik ist prägend.
So zum Beispiel auch die rund 125 Jahre später in England egalitär und kollektivistisch auftretende Digger-Bewegung unter Anleitung von Gerrard Winstanley.
Diese Bewegung entstand in Folge des englischen Bürgerkriegs (1642-1652), dessen Ursache im Versuch König Karl I. bestand, seine Regentschaft zu einer weitgehend absolutistischen Herrschaft auszubauen und dem Parlament seine zuvor erlangten Rechte wieder zu nehmen. Die unter der Führung von Oliver Cromwell gebildete „New Model Army“, auf die der gleichnamige Bandname zurückgeht, besiegte die königlichen Truppen. Karl I. wurde hingerichtet und England zur Republik („Commonwealth of England“) erklärt.
Bekanntlich inspirierte neben weiteren Ereignissen auch der englische Bürgerkrieg Georges R. R. Martin bei seiner Romanreihe „Ein Lied von Eis und Feuer“, die wiederum als Vorlage für die populäre Serie „Game of Thrones“ diente. Während der Bürgerkrieg in Westeros Parallelen zum historischen Ereignis des englischen Bürgerkriegs aufweist, ist der Konflikt zwischen den beiden Häusern Stark und Lannister in Roman und Serie dem historischen Konflikt zwischen Lancaster und York in den Rosenkriegen zwischen 1455 und 1487 nachempfunden; die Nachtwache erinnert an den Hadrianswall.
Im Zuge der englischen Revolution, die den Zeitraum der zwei Dekaden von 1640 bis 1660 umfasst, entstanden eine Vielzahl politischer Strömungen. Zu den bekanntesten gehörten die Levellers, deren Name vom englischen Wort to level (gleichmachen) abgeleitet ist. Die Levellers forderten eine Egalisierung der politischen und sozialen Verhältnisse, insbesondere ein Ende der feudalen Privilegien. Auf diese Bewegung und deren radikaldemokratische Tradition bezieht sich die 1988 in Brighton gegründete Band Levellers in ihren Texten und Symboliken, wie z.B. die Ähre, niederschlägt.
Gerrard Winstanley, ein im Bürgerkrieg verarmter Schneider, stand ursprünglich den Levellers nahe. Deren Forderungen und Handeln gingen ihm jedoch nicht weit genug. Seine Vision, die sowohl auf seinen Erfahrungen als Landarbeiter als auch auf seinen religiösen Überzeugungen beruhte, war eine egalitäre Gesellschaft ohne Privateigentum an Grund und Boden. Wie auch Thomas Müntzer begründete Winstanley seine Haltung theologisch. Er war überzeugt, dass Gott keine sozialen Hierarchien gewollt habe, weshalb alle Menschen gleichen Zugang zur Erde haben sollten.
„Am Anfang der Zeit machte die Vernunft als der große Schöpfer aller Dinge die Erde zu einer gemeinsamen Schatzkammer […]. Doch war am Anfang mit keinem einzigen Wort davon die Rede, dass ein Teil der Menschheit über den anderen bestimmen sollte.“ (Gerrard Winstanley)
Mit rund einem Dutzend Gleichgesinnter besetzte er im April 1649 in Surrey brachliegendes Gemeindeland. Die Digger, (nach dem englischen Wort für diejenigen, die umgraben) erklärten, dass die Erde ein „gemeinsames Gut“ sei, weshalb die Armen und Landlosen das Recht hätten, brachliegendes Land für ihren Lebensunterhalt zu nutzen.
So entstand eine der ersten Landkommunen der Neuzeit, die innerhalb kürzester Zeit mehr als 50 weitere Digger-Kommunen zur Nachahmung inspirierte. Die strikt gewaltfreie Bewegung, die auf Überzeugungsarbeit durch Flugschriften setzte, stieß wiederum auf heftigen und gewaltvollen Widerstand der um ihre Privilegien fürchtenden Grundbesitzenden. Da die Regierung Cromwell die Digger-Bewegung als unbedeutet ansah und sich zunächst weigerte, militärische Mittel zu ihrer Eindämmung einzusetzen, griffen lokale Adlige und Grundbesitzer die Kommunen gewaltsam an.
Infolgedessen ordnete die Regierung schließlich die Vertreibung der Digger-Kommunen an, deren Ernten vernichtet, Werkzeuge zerstört und Anführer wie Winstanley verhaftet wurden. Bis 1651 waren die meisten Kommunen aufgelöst.
Trotz ihrer zeitlich und räumlich begrenzten Wirksamkeit, beeinflusste die Digger-Bewegung mit ihrer radikalen Systemkritik und gewaltlosen Mitteln nachfolgende progressive Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Winstanleys Schriften wurden und werden in sozialistischen, anarchistischen und auch kommunitären Bewegungen rezipiert. Der inzwischen verstorbene, politisch aus der Strömung des Operaismus stammende italienische Philosoph Antonio Negri und der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt griffen beispielsweise in ihrem Buch Common Wealth – Das Ende des Eigentums (2010) Winstanleys Konzepte auf und stellten sie in einen modernen, globalisierungskritischen Kontext.
Die Ideale und Aktionen der Diggers inspirierten aber auch Künstler:innen und Musiker:innen. Insbesondere in der britischen Musikszene finden sich Bezüge zur Digger-Bewegung und zu Gerrard Winstanley.
Der britische Singer-Songwriter Leon Rosselson schrieb 1975 das Lied "The World Turned Upside Down", das die Geschichte der Diggers und ihrer Besetzung des St. George's Hill in Surrey erzählt. Der Titel des Liedes spielt auf die tiefgreifenden sozialen Umwälzungen an, die die Diggers anstrebten.
Billy Bragg, der wie Deutschlandfunk Kultur einmal zutreffend schrieb, „mit Songs über Liebe, Mitgefühl und soziale Gerechtigkeit […] die Herzen seiner Landsleute – auf einer Minibühne vor streikenden Minenarbeitern genauso wie vor einem Millionenpublikum in der BBC-Sendung ‚Top of the Pops‘“ – eroberte, nahm dieses Lied später auf und trug dazu bei, die Geschichte der Diggers einem breiteren Publikum bekannt zu machen.
Auch die linke Band Chumbawamba, gegründet 1982 und aufgelöst 2012, deren „Enough Is Enough“ zu den populärsten und tanzbarsten Demo-Songs gehören dürfte, griff auf die Digger-Bewegung zurück. Auf dem 1988 erschienen Album „English Rebel Songs 1381-1914“ interpretierten sie traditionelle englische Protestlieder neu. Darunter mit „The Diggers Song“ auch ein ursprünglich von Winstanley verfasstes Lied, das die Ideale der von ihm initiierten Bewegung ausdrückt.
Ob die Mitglieder der in den 1960er Jahren in San Francisco gegründeten anarchistischen Kommune „The Diggers“ den 1961 erschienen und ein Jahr später bei Pantheon Books New York auch dem amerikanischen Publikum bekannt gemachten Roman „Comrade Jacob – a novel of the English Revolution“ gelesen haben, ist nicht bekannt.
„Do your own thing“ war Slogan der San Francisco Diggers, die bereits zwei Jahre vor den Ereignissen des Jahres 1968 entstanden und deren Aktionen Guerilla-Theater, Konzerte und Straßenaufführungen, ebenso Gratisläden und kostenlose Essenverteilungen in Parks umfassten. Ihr Ziel war die Abschaffung von Geld und der Übergang zu einem alternativen, gemeinschaftlichen Lebensstil. Auch nach ihrer Auflösung lebte der Geist der San Francisco Diggers in der Underground Kultur und ökologischen Bewegungen fort.
In „Comrade Jacob“ schildert David Caute, Autor einer Vielzahl historischer Romane und Sachbücher, die Ideale der Digger-Bewegung und den Konflikt mit den Grundbesitzern und Adel. Dieser Roman war wiederum die Grundlage für den 1975 in Großbritannien erschienenen Film „Winstanley“, der mit den Techniken des Reenactments, das Leben von Winstanley und der Digger-Siedlung in St. George’s Hill schildert.
Die Zapatistische Bewegung, auf die Thomas T. Müller im eingangs erwähnten Podcast KUNST DER FREIHEIT ebenfalls Bezug nimmt und erläutert, weshalb ein Dorf im mexikanischen Chiapas den Namen Thomas Müntzers trägt, verteilt Land kollektiv und organisiert basisdemokratische Strukturen. Die Landless Workers‘ Movement (MST) in Brasilien besetzen ungenutztes, brachliegendes Land, um gemeinwohlorientierte Strukturen aufzubauen. Auch die Hausbesetzungsbewegungen bis hin zur Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ mit der Forderung nach Vergesellschaftung von Wohnraum können ebenso in diese ideengeschichtliche Traditionslinie eingeordnet werden, wie die Bewegung um digitale Gemeingüter und Open-Source.
Dies zeigt, dass die Ideen der Digger und anderer agrarischer Proteste mit ihrer radikalen Kritik an Privateigentum und ihrer Vision einer egalitären Gesellschaft in den unterschiedlichen progressiven Bewegungen bis heute fortleben. Zum Teil mit direktem Bezug, zumeist nur indirekt und häufig sogar verschüttet. Ihre Rezeption in Kunst und Kultur tragen dazu bei, die Quellen offenzulegen und das Bewusstsein wach zu halten.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.