Reparaturbonus für defekte Debatten – im Gespräch mit Dr. Julia Reuschenbach
BIHoff: Als Rot-Rot-Grüne Koalition in Thüringen führten wir seinerzeit einen Reparaturbonus ein, mit dem Bürgerinnen und Bürger unterstützt wurden, Dinge reparieren zu lassen, statt sie einfach wegzuwerfen. Ist es mit der Demokratie vielleicht ähnlich? Bräuchte es eine Art Reparaturbonus für unsere gesellschaftlichen Debatten, damit die Demokratie nicht einfach weggeworfen wird?
Dr. Julia Reuschenbach: Die Frage ist ein bisschen, wie könnte denn so ein Reparaturbonus aussehen? Man könnte vielleicht sagen, so wie Fleißsternchen in der Schule, wer sich um gute Debattenkultur bemüht, hat irgendeinen Benefit davon.
Aber ich glaube im Idealfall müsste es ohne Bonus oder ähnliches gehen.
Wir haben ein Grundinteresse daran in einer Demokratie wie der unseren, die auf Konsens ausgerichtet ist, miteinander gut im Gespräch zu sein. Dass wir gute Aushandlungsprozesse haben, einen Interessensausgleich etc. Dies ist uns in den letzten Jahren ein bisschen verloren gegangen. Und das Verrückte ist aber, dass wir dies alle bemerken.
Hinter dem von Ihnen, Herr Hoff, verwendeten Begriff der defekten Debatten steckt ein Buch und bei den Recherchen für dieses Buch fanden mein Co-Autor, Korbinian Frenzel, und ich eine Sache wirklich erstaunlich, nämlich dass von ganz links bis ganz rechts politisch, also die, die sich wirklich eigentlich nichts zu sagen haben, sich dann doch in einer einzigen Sache alle einig waren, nämlich darin, dass es um die Debattenkultur in Deutschland schlecht steht.
Und ich finde, das ist eigentlich der Impuls, aus dem heraus man sagen kann, wenn das doch allen aufhält, dann haben wir doch auch irgendwo doch ein minimales gemeinsames Interesse daran, etwas zu ändern.
Regressive Zeiten und schlechter Wetterbericht
BIHoff: Wir leben in regressiven Zeiten. In der Ukraine tobt weiterhin der russische Angriffskrieg, in Südkorea wollte der Präsident die Opposition ausschalten, in den USA träumt Präsident Trump offen von Gebietserweiterungen der und einem radikalen Staatsumbau. Ihm unterwerfen sich die Techmilliardäre wie Elon Musk, Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg mit dramatischen Folgen nicht nur für die sozialen Medien. In Österreich könnte mit Herbert Kickl vermutlich erstmals seit Engelbert Dollfuß 1933/34 ein Rechtsextremist Kanzler werden.
Sie haben in dem von Ihnen und Korbinian Frenzel publizierten Buch „Defekte Debatten“ ein Kapitel, das die Überschrift „Schleichendes Gift“ trägt und sich damit befasst, was mit der Debattenkultur passiert, wenn sich die demokratischen Eliten nicht mehr von den populistischen Erzählungen und Narrativen unterscheiden. Wenn wir jetzt auf die in Kürze anstehende Bundestagswahl schauen, wie schätzen Sie denn das Klima unter dem Gesichtspunkt gegenwärtig ein?
Dr. Julia Reuschenbach: Ich würde sagen, es sieht nach einem eher schlechten Wetterbericht aus.
Mir wird oft die Frage gestellt, ob wir nicht schon immer politisch hart gestritten haben in Deutschland. Es gab doch auch früher Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß. Die sind einander hart angegangen. Joschka Fischer hat im Parlament gepöbelt. Da stimme ich zu. Doch der Unterschied zwischen damals und unserem heutigen Debattenklima sind die polarisierenden Kräfte, die populistisch und in Teilen extremistisch ein strategisches Interesse daran haben, Diskurs zu verunglimpfen, Kompromisse abzuwerten, Streit zu provozieren und wirklich Provokationen zu erzeugen, um damit den Diskurs zu dominieren.
Elon Musk ist ein wunderbares Beispiel dafür. Alice Weidel, wenn man an diese Aussage denkt, in ihrem Gespräch mit Elon Musk, dass Hitler angeblich Kommunist gewesen sei, ist ein anderes. Solche Aussagen fallen mit dem Ziel, dass im Grunde wenige Stunden später alle darüber reden. Und bedauerlicherweise, das ist schon ein erster Kritikpunkt, tun es dann auch alle.
Die AfD wird jetzt zwölf Jahre alt und ich hätte mir schon länger gewünscht, dass wir da besser werden. Stattdessen habe ich das Gefühl, dies gelingt nur phasenweise.
Die zweite Frage ist, was machen die anderen damit, mit dieser Ausgangslage? Vergleichen wir das mal, ganz lebensnah mit einer öffentlichen Veranstaltung. Wir können eine Karnevalssitzung nehmen oder eine Kirmes, ein Schützenfest, ist völlig egal. Da sind 20 Tische und da gibt es einen Tisch hinten in der Ecke, der ist die ganze Zeit laut. Die pöbeln rum, die schreien dazwischen, die grölen und alle sind genervt in der Halle, alle sind angestrengt. Aber je länger man das aushält, desto größer ist die Gefahr, dass irgendwann jemand anders meint, man kommt denen gar nicht mehr bei, als dass man sich selbst auch auf dieses Niveau herablässt. Also schreit man zurück, man fängt auch an zu pöbeln. Und das ist im Grunde aus meiner Sicht der Effekt, den wir in den letzten Jahren beobachten konnten.
Wir sehen andere Parteien, nicht nur die Union, aber vor allem Teile der Union, die offensichtlich den Eindruck haben, dass sie diesen lauten, anstrengenden Stimmen nicht anders mehr begegnen können, als durch eine Art Imitation, also sich im Grunde auch auf dieses Level hinabzugeben. Und das ist für den Diskurs brandgefährlich aus meiner Sicht, denn es normalisiert und demokratisiert die Position, die Tonalitäten, das was dort gesagt wird.
Andererseits wissen wir aus der Forschung, dass dies im Grunde eine ineffektive Strategie ist. Parteien, die diesen Weg gehen, egal ob mitte-rechts oder mitte-links Parteien, sozialdemokratische Parteien zum Beispiel, erleben, wenn es schlecht läuft zwei Effekte: nämlich zum einen, dass sie dieses sogenannte Original, also die populistischen extremistischen Kräfte aufwerten, die also womöglich elektoral an der Urne noch mehr Stimmen bekommen. Und zum anderen, wenn es richtig schlecht läuft, verliert die nachahmenden Parteien auch noch selbst in der politischen Mitte, da wo man vorher gewählt wurde. Denn die ehemaligen Wählerinnen und Wähler fragen: „Entschuldigung, was ist denn jetzt hier plötzlich los? So haben wir doch früher auch nicht geredet?!“ und dann ist man nicht mehr wählbar.
Wir haben, und das schockiert mich, wie ich offen zugebe, aus meiner Sicht in den letzten Jahren einen Prozess erlebt, den wir zwar im Buch als schleichendes Gift bezeichnen, aber mein Eindruck ist, dass dieses Gift in den letzten beiden Jahr sehr viel zügiger eingesickert ist, als ich es erwartet hätte.
Noch vor kurzer Zeit analysierten der Soziologe Steffen Mau und sein Team von der Humboldt-Uni in ihrem Buch „Triggerpunkte“, die Gesellschaft sei gar nicht so gespalten wie wir denken und haben auch Punkte dafür aufgemacht, wo tatsächlich Spaltungslinien verlaufen und wo – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – überhaupt nicht. Wenn man sich diesen Korridor in den vergangenen zweieinhalb, drei Jahre anschaut, muss man heute konstatieren, dass sich erhebliche Verschiebungen ergeben haben, die affektive Polarisierung sehr stark zugenommen hat und die Annahme von Mau und Kollegen, dass vor allem politische Eliten diese Polarisierug vorantreiben, heute noch stärker ausfallen würde.
Das macht mir mit Blick auf diesen jetzigen Wahlkampf, aber auch vor allem auf diese Legislatur, die vor uns liegt, schon große Sorgen.
BIHoff: Nun sind ja in den Parteizentralen kluge Menschen beschäftigt. Und diese klugen Menschen lesen ja auch Ihre Diagnosen und...
Dr. Julia Reuschenbach: Das sagen Sie.
BIHoff: …lesen ja auch ihre Diagnosen und wissen vermutlich auch, dass die Imitation keinen Erfolg bringt. Worin liegt die Ursache, dass die Imitationsstrategie gleichwohl weiterhin praktiziert wird?
Dr. Julia Reuschenbach: Ich würde erstmal ein Fragezeichen an die Feststellung machen, dass die alle unsere Diagnosen lesen. Denn ich erlebe, wenn ich im Kontakt bin mit Parteizentralen dieses Landes oder einzelnen Akteuren, Landesverbänden, Landesgruppen, was auch immer in Parteien, ganz häufig, dass das nicht der Fall ist.
Es gibt vielmehr so eine Getriebenheit im politischen Betrieb, die fast ein bisschen betriebsblind macht. Und es ist halt viel verlockender, auf eine irgendeine aktuelle Online-Umfrage zu zeigen, in der 75 Prozent der Leute sagen, Migration ist das bedeutenste Thema überhaupt momentan, statt eine 20-seitige politikwissenschaftliche Analyse zu lesen, die fragt, ob das wirklich so ist, seit wann, bei wem und warum und was die intensive Berichterstattung und das Reden über Migration mit der Wahrnehmung der Menschen zu tun haben.
Und ich glaube, das ist eben ein Grund, warum dieses „sich andienen“ praktiziert wird. Was übrigens nicht heißt, dass Migration für viele Menschen nicht auch tatsächlich das wichtigste Thema ist. Aber die Differenzierung findet nicht statt: Empfinden Menschen Migration als Bedrohung? Macht sie ihnen Angst? Finden sie Zuwanderung gut, wünschen sich aber eine bessere Problemlösung bei den Dingen, die nicht gut laufen? Geht es um „Migration ja aber mit strengeren Regeln“ und so weiter.
BIHoff: Argumentiert wird ja meistens damit, dass man „die Menschen“ nicht verlieren will. Und weil „die Menschen da draußen“ so denken, muss man entsprechend agieren. Dem widersprechen Sie implizit in Ihrem Buch.
Dr. Julia Reuschenbach: Auch gern explizit! In dem TV-Duell zwischen Mario Vogt und Björn Höcke, ausgestrahlt bei WeltTV im Vorfeld der Landtagswahl 2024 sagt Mario Vogt an einer Stelle – und es hat am nächsten Tag außer mir glaube ich leider gar nicht so viele Leute interessiert, weil es durch eine Aussage von Friedrich Merz einige Wochen vorher schon im Grunde normalisiert wurde – in Thüringen gäbe es keine Kindergartenplätze mehr für deutsche Kinder, weil die alle für Ausländer freigehalten werden. Das kennen wir typischerweise von der AfD und man sieht auch in der Aufnahme, dass Herr Höcke in dem Moment nickt. Er stimmt dem zu und ich nehme auch an, er freut sich, dass Mario Vogt den Punkt gemacht hat und er ihn selbst gar nicht mehr machen musste.
Und nun stellen wir uns mal vor, was mit den Wählerschaften dieser Parteien in diesem Moment mutmaßlich passiert. Die, die ohnehin schon der AfD zugeneigt sind, werden wohl – etwas salopp formuliert – sagen, schön, dass der Mario Vogt es jetzt endlich auch begriffen hat, und fühlen sich in ihrer Position bestärkt, legitimiert und verstanden. Das führt aber nicht dazu, dass diese Leute nun Voigt bzw. CDU wählen, denn man fühlt sich ja bekräftigt in dem, wo man ohnehin politisch schon steht.
Die Wählerschaft der CDU sagt wiederum auch nicht oder wenn dann nur ein kleiner Teil derer, „gut, dass der Mario Voigt das jetzt auch mal ausgesprochen hat“, sondern die denken sich im Zweifelsfall, dass wenn Mario Voigt das jetzt auch schon sagt, dann kann das, was Björn Höcke sagt, so schlimm nicht sein.
Was man daraus für einen Nutzen ziehen will, ist mir schleierhaft und man sieht das auch in den Nachwahldaten für Thüringen. Es gibt nur wenige Parteien, an die die CDU-Wählerinnen und Wähler verloren hat in Thüringen. Aber eine davon ist eben die AfD.
Aber die Frage, die Sie gestellt haben, war ja, warum passiert das eigentlich? Und ehrlicherweise habe ich nur eine sehr unbefriedigende Antwort: Ich glaube, weil man den Eindruck hat, dass nichts anderes hilft.
Und es ist ja auch nicht ganz von der Hand zu weisen, denn dort wo man die Ausgrenzung praktiziert hat, das Ignorieren, ein Cordon sanitaire, wie in Frankreich oder anderen Benelux-Ländern, sind diese Parteien trotzdem erstarkt.
Da, wo sie wiederum in Regierungen beteiligt wurden, weil man dachte, man kann sie irgendwie einhegen, in Polen, Ungarn oder Österreich hat es auch nicht funktioniert. Sie sind meistens aus diesen Regierungsbeteiligungen gestärkt hervorgegangen.
Insofern gibt es im wahrsten Sinne des Wortes ein verzweifeltes Suchen nach irgendeiner Strategie, die irgendetwas bewirkt. Und da würde ich mir schon eine Wertschätzung für die Wissenschaft wünschen. Das ist nicht zu verwechseln mit einem „Follow the Science“, denn Wissenschaft bedeutet immer Fehlbarkeit. Aber eine stärkere Wertschätzung für die Wissenschaft, die, wenn es um Rechtspopulismus geht, Punkte aufzeigt, von denen man in den Parteizentralen sagen könnte, das sollten wir mal versuchen.
Dazu gehört, wie man Themen adressiert, wie man sie bespricht und wie man konkrete Lösungen anbietet. Es geht inhaltlich viel um Austerität, um Sozialpolitik, also die Sorge vor Statusverlusten, Entwertungsängste und es geht vor allem um Abwanderung, also demographische Entwicklungen und die Frage, wie etwa Investitionen in Infrastruktur und Daseinsvorsorge Stimmenpotenziale solcher Parteien kleiner machen können. Und das sind potenziell schon Dinge, denen Politik etwas entgegensetzen kann.
Wenn ich den Berliner Politikbetrieb erlebe, dann ist im Alltag zu häufig zu wenig Zeit für solche strategischen Konzepte und übergeordnete, fernab von Wahlkämpfen und befristeten Legislaturen, zu denkende Grundsatzfragen. Und ich habe auch den Eindruck, dass die Art, wie Journalismus mit diesem Problemfeld umgeht, starke Rückwirkungen auf das politische Handeln hat. Beide Systeme wirken aufeinander verstärkend ein. Und auch der Journalismus, nicht nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk, sondern der Journalismus im Ganzen, hat sich aus meiner Sicht in vielen dieser Dinge nicht mit Ruhm bekleckert. Wenn man zum Beispiel mit Tino Chrupalla ein Interview führt, in dem man ihn sieben Minuten lang dazu befragt, ob er Björn Höcke für einen Rechtsextremisten hält, hat das mit gutem Journalismus wirklich nichts zu tun. Es ist eher eine Gelegenheitsstruktur, die es für populistische und extremistische Kräfte sehr einfach macht, ihre Narrative in die Welt zu bringen und die gewünschten Reaktionen darauf zu provozieren. Was umgekehrt natürlich nicht heißt, dass es nicht auch guten Journalismus gibt, der versucht das anders zu machen.
Erosion in der Mitte der Gesellschaft
BIHoff: An einer anderen Stelle in Ihrem Buch diagnostizieren Sie inmitten der Polykrise eine Demokratiekrise, deren Ursache in der Erosion in der Mitte unserer Gesellschaft besteht.
Ich zitiere: „Menschen, die wir bislang zu den ‚Wohlmeinenden‘ gezählt hätten. Menschen, gar nicht zwingend politisch aktiv, aber doch interessiert, die sich selbst vermutlich als überzeugte Demokratinnen bezeichnen würden, bekommen Zweifel. Ein diffuser und unterschwelliger Frust wächst. […] Der Historiker Christopher Clark hat es im Deutschlandfunk Kultur vor Kurzem treffend beschrieben: Die Demokratie droht, fernab ihrer Feinde, ihre Freunde zu verlieren. Nur mit diesen Freunden lösen wir Defekte in unseren Debatten und kommen zu einer besseren Streitkultur.“
Christopher Clark verdanken wir bekanntlich das Buch „Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog“. Was für Stabilisatoren sehen Sie denn, um nicht in weiter in die Demokratiekrise zu taumeln, sondern vielmehr einen Schritt wegzugehen vom Abgrund?
Dr. Julia Reuschenbach: Wir müssen aus unserer Sicht viel stärker über diese Wohlmeinenden sprechen, über deren Sorgen und deren Probleme und Herausforderungen, statt immer wieder sehr schnell im Grunde auf die Extremphänomene zu gucken und auf deren Verhalten und auf deren Positionen. Bei diesen Wohlmeinen denken wir an Leute, die verzweifeln über ausfallende Schulstunden, über die Deutsche Bahn, über Termine im Bürgeramt, über Faxgeräte in Gesundheitsämtern. Leute, die an sich sagen, hey, ich bin doch bereit, mich hier einzubringen und mitzumachen und bin auch neugierig, vielleicht nicht superaktiv, aber eben irgendwie dabei. Doch läuft der Laden einfach nicht.
Was der Staat verloren hat und was er dringend wieder braucht, sind nicht Visionen im großen Sinne, sondern die Belastbarkeit von Versprechen. In der alten Bundesrepublik, zu Bonner Zeiten, war die Idee fest verankert, dass wer fleißig ist und arbeitet, zu einem kleinen, bescheidenen Wohlstand kommen kann. Man kann sich vielleicht ein Häuschen leisten, eine Wohnung und man hatte den Grundgedanken, den eigenen Kindern wird es einmal besser gehen als einem selbst. Diese Versprechen kann der Staat heute nicht mehr gut einlösen.
BIHoff: Das Vertrauen in dieses Versprechen ist zurückgegangen. Seit mehr als zehn Jahren ist eine Mehrheit der Bevölkerung der Überzeugung, dass es der nächsten Generation nicht besser, sondern schlechter gehen wird.
Dr. Julia Reuschenbach: Exakt. Wir sehen, dass die Menschen immer noch unglaublich bescheiden sind in ihren Wünschen. Sie träumen gar nicht von großen Dingen, sondern genau von diesen kleinen Dingen, die aber doch Sicherheit geben, die Verlässlichkeit ausstrahlen.
Angesichts dessen muss der Staat wieder dahin kommen, dass bei allem, was er zu Recht an Engagement und Eigeninitiative einfordert, eine Gegenleistung bringt: die Belastbarkeit von Versprechen.
Demokratie lebt vom Einzelnen. Wir fordern, dass Menschen sich engagieren gegen Extremismus, dass sie auf die Straße gehen, dass sie sich einsetzen für Minderheiten. Doch dafür braucht es eine ausgeglichene Waage zum Leistungsversprechen des Staates, welche Rahmenbedingungen er schafft, damit Menschen überhaupt die Ressourcen haben, sich zu entfalten, engagiert zu sein. Das reicht von Kinderbetreuung, über Schulen bis zu Infrastruktur, Daseinsvorsorge, Gesundheitsvorsorge und anderes mehr. In diesem Sinne die Erwartungen dieser Wohlmeidenden ernst zu nehmen, sie konkret zu adressieren, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Dabei sind eben keine Riesenversprechen notwendig. Im Gegenteil. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Was wäre, wenn Bundeskanzler Scholz nicht versprochen hätte, in seiner Amtszeit würden 400.000 Wohnungen gebaut, sondern nur die Hälfte, also 200.000. Und er hätte deutlich gemacht, dass er weiß, dass das eigentlich nicht genug ist. Aber die 200.000 Wohnungen, die wollen wir jetzt auf jeden Fall mal packen und die hätten wir gepackt. Das wäre schon schwierig genug geworden, wie wir heute wissen angesichts Energiekrise und Co. Aber es hätte mehr Beständigkeit gehabt.
Und ich glaube, das ist, wir sprechen ja miteinander vor dem Hintergrund dieser gescheiterten Ampelkoalition, was diese Koalition sehr schwach gemacht hat. Nicht nur der dominierende Ampelstreit. Menschen sind klug genug zu wissen, dass wenn sehr unterschiedliche Leute sich einigen müssen, es auch mal hoch hergehen darf. Das kennen wir ja auch im Privaten. Doch es gab nach dem Streit, wenn man sich geeinigt hatte, keine Verlässlichkeit. Und zwar egal, ob wir von der Wärmepumpenbranche reden oder vom privaten Dieselfahrer oder Gasheizungsbesitzer. Das betraf alle gleichermaßen und alle hatten gleichermaßen das Gefühl, dass man nur die Stoppuhr anzuschalten brauchte, bis irgendwer den mühsam errungenen Kompromiss wieder infrage stellte.
Diese Unsicherheiten vergraulen die Wohlmeinenden, die an sich guten Willen haben, irgendwie an Bord zu bleiben und die irgendwann den Kopf schütteln und sagen, das kann doch alles nicht mehr wahr sein.
Eine neue Regierung, egal wie sie aussehen wird, sollte hier ansetzen und darin besser sein als die gescheiterte Ampel. Ansonsten bleibt das Einfallstor für Populismus sperrangelweit offen. Denn der Populismus nährt sich bekanntlich aus der Erzählung des Volkes gegen die Elite da oben in Berlin, in Brüssel, die korrupt ist, in die eigene Tasche wirtschaftet und denen die einfachen Leute egal sind.
In unserem Buch unterbreiten wir den Vorschlag eines Bestandsschutzes für politische Entscheidungen. Wenn eine Entscheidung getroffen wurde, dann muss die auch erstmal in der Praxis ankommen und sich für mal ein paar Monate bewähren dürfen, bevor man wieder anfängt, die Dinge zu ändern oder ganz zurückzunehmen.
Neue Formate statt bisheriger Talkshows
BIHoff: Ein großer Teil von Menschen, das erfahren wir jedes Jahr, wenn Infratest dimap beispielsweise am Anfang eines Jahres die Leute befragt, ob sie optimistisch oder pessimistisch in die Zukunft gucken, vermeidet aktiv Nachrichten, weil der Dauerkonflikt, der Dauerstreit, ob im Parlament, in Talkshows etc. als zu belastend wahrgenommen wird. Und die eigene Selbstwirksamkeit im Vergleich dazu als viel zu gering, um bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen einen aktiven Beitrag leisten zu können. Nun plädieren Sie und Herr Frenzel für eine Neubelebung der Streitidee.
Ich liebe das Zitat von Jürgen Trittin, der mal gesagt hat, wenn ich keinen Bock auf Streit gehabt hätte, wäre ich nicht in die Politik gegangen. Und ich bin auch ein großer Fan von Streit, weil ich finde, dass Streit in bestimmten Rahmenbedingungen, nämlich als konstruktiver Austausch, tatsächlich auch dazu führen kann, dass man sich klar wird, wer hat eigentlich welche Position und wo sind wir eigentlich miteinander gemeinsam in der Differenz. Aber wie belebt man nun die Idee von Streit angesichts des Dauerstreits, den wir allerorten wahrnehmen?
Dr. Julia Reuschenbach: Ich glaube, Sie haben eine ganz wichtige Antwort schon gegeben. Entscheidend scheint mir für Streit, dass wir ein Commitment haben, ein gemeinsames Verständnis davon, welchen Zweck Streit in einer Gesellschaft erfüllt und ob wir das nun in der Schule lernen oder in der Politik oder im Betrieb, ob wir aushandeln über das Essensangebot in der Betriebskantine oder anderes, ist, glaube ich, dafür eigentlich erst mal nachrangig.
Das, was Sie beschrieben haben, die Unterscheidbarkeit von Angeboten von Programmen, gerade in der Politik, ist ja das, was wir mit Polarisierung beschreiben, und die ist in der Demokratie wünschenswert.
In der Kanzlerschaft von Angela Merkel wurde der Streit vermisst. Es erschien, als seien sich alle einig und alle wollen dasselbe. Das wurde als langweilig, ermüdend und im Grunde depolitisierend wahrgenommen. Im Gegensatz dazu erscheint es gegenwärtig als stünde jemand vor der Musikanlage und dreht sie ohne Ankündigung von ganz leise schlagartig auf ganz laut. Die Leute sagen, oh Gott, geh mir weg mit diesem ganzen Streit. Das ist so laut. Alle schreien sich an.
Was wir deshalb brauchen, sind Orte, Arenen nennen wir das in unserem Buch, in denen Streiten wieder konstruktiv gedacht wird. Also Streit um der Sache willen, Streit um das bessere Argument und auch in der Bereitschaft, dem anderen entgegenzutreten, mit der natürlich idealtypisch gesprochenen Idee, der andere oder die andere Person könnte womöglich auch Recht haben, könnte gute Argumente haben, die mich zumindest vielleicht mal für eine Stunde nachdenklich machen, auch wenn ich bei meiner Position bleibe. Und wir schlagen dafür im Buch ganz viele unterschiedliche Dinge vor, mit denen man versuchen kann, das wieder zu beleben.
Dafür sind Räume und Formate wichtig, wo Menschen einander begegnen. Raus aus diesen Logiken der digitalen Welt, weil wir wissen, dass das persönliche Gespräch zivilisiert, dass man wieder mehr darauf achtet, wie man dem anderen begegnet. Aber mein Co-Autor Korbinian Frenzel und ich sprechen auch über Dinge, die man machen könnte, um zum Beispiel einen konstruktiveren Dialog zwischen Journalismus und Gesellschaft wiederherzustellen.
BIHoff: Sind Talkshows der richtige Ort für das, was Sie sich vorstellen?
Dr. Julia Reuschenbach: So wie sie momentan funktionieren, als jemand, die gelegentlich selber auch in solchen Sendungen zu Gast sein darf, würde ich sagen eher nein. Weil die gegenwärtigen Formate vor allem Rollen besetzen und man im Grunde der Erwartungshaltung begegnet, man solle an diesem Tisch eine bestimmte Rolle ausfüllen. Man ist wahlweise links oder rechts oder die Vernunft am Tisch oder die Provokateurin.
Ich wünschte mir aber, wir würden dahin kommen, dass wir Talkshows haben, in denen um Inhalte gerungen wird. In denen Politiker, die sich im normalen Leben duzen, gerne auch in der Sendung weiterduzen und nicht plötzlich so tun, als müsste man jetzt zum Sie übergehen und der Öffentlichkeit quasi ein Zerrbild liefern von dem, was einen eigentlich verbindet. Talkshows in denen in der Sache gestritten wird. Und das ist sehr schwer, weil wir andere Effekte sehen, etwa eine sehr starke Personalisierung, die wir erleben auf ganz vielen Ebenen, die dem natürlich entgegenstehen.
Und ich glaube, es gibt auch in der Politik wenig Vertrauen, dass Menschen das so annehmen könnten, wie ich es gerade beschrieben habe. Stattdessen gibt es eine große Befürchtung. Als sich das erste Mal Kevin Kühnert von der SPD und Paul Ziemiak von der CDU einander duzten in einer Talkshow gab es sofort ein Raunen, dass denen nun Klüngelei unterstellt wird. Also im Grunde diese populistische Erzählung über die Eliten. Dabei kennen sich die beiden einfach lange. Politik hat in solchen Fällen offenbar den Eindruck man mache sich angreifbar. Ich glaube nicht, dass eine Mehrheit der Menschen das so sehen würde.
Für die Neubelebung der Streitkultur, würde ich mir den Mut wünschen, dass man sagt, es ist doch völlig lebensfremd zu glauben, dass Politiker, die wahlweise im FC Bundestag zusammen Fußball spielen oder den lieben langen Tag in irgendwelchen Ausschüssen nebeneinandersitzen, sich nicht auch duzen und trotzdem hart in der Sache streiten können. Wir können den Menschen, die solche Talkshows anschauen, wirklich mehr zutrauen.
Und dann kommt aber noch was anderes dazu - Sie haben ja News Avoidance, also Nachrichtenvermeidung angesprochen – nämlich die Frage, wer guckt denn das überhaupt? Ein ganz signifikanter Teil von denen, die sich sowieso wenig für Politik interessieren, schaut auch diese Talkshows nicht. Die schauen Leute wie Sie, die schaue ich, die schauen andere politisch Interessierte.
Wir brauchen viel mehr Formate, denen es gelingt, mit diesen gesellschaftlichen Gruppen, die übrigens auch besonders anfällig sind für Populismus, wieder stärker ins Gespräch zu kommen. Formate, in denen Menschen stärker dialogisch einbezogen werden, in denen sie sich einbringen können.
Abschließend haben Sie die fehlende Selbstwirksamkeitswahrnehmung erwähnt. Eine große Zahl von Menschen, übrigens auch junge Menschen, haben in Deutschland das Gefühl, dass ihre eigene Stimme nichts ausrichten kann in diesem Land.
An dieser Stelle erwähne ich gern ein Beispiel, weil ich es so mag, auch auf die Gefahr, etwas nerdhaft zu wirken. Eine frühere, sehr erfolgreiche ZDF-Fernsehsendung hieß „Wie würden Sie entscheiden?“. Das war eine Gerichtssendung, man könnte sagen so etwas wie der Vorgänger von „Richterin Barbara Salesch“ und anderem. Dort wurden echte Fälle verhandelt. Anschließend wurde das Publikum dazu befragt, wie würden Sie eigentlich entscheiden? Wie würden Sie Argumente gewichten? Wie würden Sie die Dinge, die Sie gehört haben, abwägen? Wo haben Sie Zweifel? Wo sind Sie skeptisch? Alles Dinge, die für eine gute Debattenkultur total wichtig sind. Und dann gab es das Urteil. Und das wurde dann aber auch nachbesprochen, warum ist das jetzt so gefallen, wie es gefallen ist? In dieser Sendung hat man gemeinsam reflektiert und Fehlerkultur betrieben.
Das wäre nicht nur in einer idealen Welt ein sehr gutes Format und muss gar keine Fernsehsendung sein. Das kann auch ein Bürgerdialog vor Ort sein oder Formate in Schulen mit Jugendlichen in der außerschulischen Bildungsarbeit, von denen wir glaube ich mehr bräuchten, um diese Stimmen, die ja da sind, hörbar zu machen und deren Perspektiven sichtbar zu machen.
Nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland hatten wir diese Debatte darüber, ob die jungen Leute jetzt alle rechts wählen, im Internet über TikTok und Co. rechts radikalisiert werden. Es wird dabei so getan als seien die jungen Leute eine homogene Gruppe. Sehen wir uns aber Studien an, dann wird deutlich, dass die Themen der jungen Menschen dieselben Themen wie auch der alten Menschen sind. Gesorgt wird sich um die Kriege der Welt, den Zustand des Klimas, bezahlbaren Wohnraum, es gibt Angst vor Altersarmut. Eine Mehrheit wünscht sich ein bescheidenes Eigentum im Sinne von Sicherheiten. Wenn sie mit den Leuten Mitte 50 reden, hören sie dasselbe, nur ein bisschen anders konnotiert. Die sagen, ich habe Sorge, das zu verlieren. Ich weiß nicht, wie lange ich das halten kann. Ich möchte meinen Kindern das ermöglichen, aber ich habe das Gefühl, das gelingt mir nicht mehr.
Kurzum: Wir haben zwischen den Generationen enorm viel Gesprächsstoff, gemeinsame Inhalte und da würde ich mir wünschen, dass wir dahin kommen, diesen produktiven Diskurs wieder mehr zu nutzen, statt gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen, was wir sowohl im Bundestag, am Rednerpult, als auch in Talkshows oder anderswo viel zu häufig erleben.
BIHoff: Rainald Manthe, Soziologe und Vorstand der Stiftung Bildung publizierte im vergangenen Jahr das Buch „Demokratie fehlt Begegnung. Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts.“ Er sagt: Gesellschaftliches Vertrauen entsteht auch durch Begegnung. Alltagsorte sind eine wesentliche Infrastruktur von Demokratie. Unsere Begegnungen verändern sich: Der Staat kann dabei helfen, Begegnungsorte zu schaffen, indem er die nötige Infrastruktur gezielt unterstützt. Das ist im Prinzip ein engagiertes Plädoyer für die Dorfkneipe, das Schwimmbad und andere selbstverständliche Orte der Begegnung. Am Ende Ihres Buches unterbreiten Korbinian Frenzel und Sie zehn Vorschläge zum Kopfnicken und Kopfschütteln. Sie haben schon einen davon genannt.
Ich will drei weitere Vorschläge herausgreifen und beginne beim ersten ihrer Vorschläge, in den sozialen Netzwerken auf die Like-Funktion zu verzichten.
Dr. Julia Reuschenbach: Zum einen sind diese Netzwerke, daran kann sich wahrscheinlich gar niemand mehr erinnern, tatsächlich mal ohne diese Funktion gestartet. Die sind also weder gottgegeben noch gehörten sie immer dazu. Abschaffen sollte man sie aus unserer Sicht aufgrund des enormen Verstärkereffektes. Inzwischen besteht das hauptsächliche Ziel im Einsammeln von Likes, von Shares, von Reposts und damit ja im Grunde Bestätigung für das Gepostete zu erzielen.
Wir sind überzeugt, dass dies dem, was wir unter dem gerade Besprochenen verstehen, dem konstruktiven Streiten, im Dialog zu sein, abträglich ist, weil es im Grunde nur noch ein Wettbewerb ist. Wer sammelt die meisten Unterstützer, Supporter ein?
Die Folge davon ist laut verschiedenen Studien der Effekt des sogenannten Silencing. Die Lauten werden immer lauter, weil sie sich durch genau solche Funktionen bekräftigt fühlen. Und die Leisen verstummen in Gänze.
Damit entsteht ein Zerrbild im Netz, so dass man den Eindruck hat, dass wenn irgendein Post 50.000 Likes hat, dann muss der besonders wichtig und richtig sein. Was er aber eben ganz häufig nicht ist. Deshalb wäre es ein Experiment wert, bevor man die Like-Funktion gleich gänzlich abschafft, sie mal für zwei Monate pausieren zu lassen und zu sehen, was sich ergibt. Aber ich weiß, als Wissenschaftlerin kann man sich erlauben, solche experimentellen Gedanken anzustellen. Ich weiß nicht, ob Politik das immer so gut machen kann, doch ich bin überzeugt, es wäre an vielen Stellen gut, wenn Politik experimentierfreudiger wäre. Ganz bewusst mit dem Argument, wir probieren etwas aus, das kann auch scheitern aber wir ziehen daraus Schlussfolgerungen und machen dann vielleicht einen zweiten, verbesserten Versuch.
BIHoff: Ein Plädoyer für eine selbstverständliche Fehlerkultur auch in der Politik. Das begrüße ich sehr. Und genau dahin gehen ja auch die anderen Vorschläge, die Sie unterbreiten. Im zweiten Vorschlag braucht es einen neuen Umgang mit politischen Umfragen, insbesondere den sogenannten Sonntagsfragen. Also der fiktiven Frage, wen Befragte wählen würden, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl, Landtagswahl oder welche Wahl auch immer wäre.
Ich persönlich war immer sehr zufrieden, dass Thüringen so klein ist, dass nur drei bis vier Mal im Jahr die Sonntagsfrage publiziert wurde. Das gab einem immer ein bisschen Ruhe, auch in der politischen Auseinandersetzung arbeiten zu können, ohne den nächsten Umfragehammer vorgesetzt zu bekommen oder in Selbstgewissheit zu verfallen, dass man alles richtig macht, weil man vielleicht gerade eine Umfrage gut dasteht.
Dr. Julia Reuschenbach: Wir beschreiben das im Buch als eine dauerhafte Pulsmessung. Wenn ich weiß, mein Puls wird die ganze Zeit gemessen, was macht das mit mir? Es beeinflusst den Puls.
Zunächst ist es wichtig, diesen Sonntagsfragen eine Tatsache voranzustellen, die viele Leute entweder gar nicht wissen oder gerne wieder vergessen. Weshalb ich hier noch einmal daran erinnere, dass in den Sonntagsfragen nur die Daten derjenigen Menschen enthalten sind, die von sich sagen, dass sie schon wissen, wen sie wählen würden. All die Unentschlossenen – Achtung das sind über lange Zeit im Wahlkampf immer noch relativ viele Menschen – sind darin gar nicht enthalten.
Und was mich aufregt, dass Medien diese Sonntagsfrage hochjazzen, wenn da irgendeine Partei plus oder minus einen Prozentpunkt zulegt oder abfällt. Dabei sagt ihnen jede Wissenschaftlerin und auch jeder Demoskop, dass das wirklich keinen interessieren bräuchte, weil das meist völlig im Rahmen der Fehlertoleranz solcher Umfragen liegt. Also salopp gesagt: Rufen Sie mich wieder an, wenn wir eine Bewegung von plus/minus drei, vier, fünf Prozentpunkten in einer Umfrage haben.
Schon diese Differenzierung gelingt uns nicht. Hinzu kommt, dass bedauerlicherweise häufig auch die Parteien selbst meinen, sie bräuchten Seismografen, die die ganze Zeit diesen Ausschlag hergeben. Ich bin stattdessen überzeugt, weniger ist mehr.
Ich würde nie als Wissenschaftlerin sagen, wir sollten ganz auf dieses Instrument verzichten. Denn wir wissen auch, je näher ein Wahltermin rückt, desto mehr werden Umfragen auch wahrgenommen von Menschen, die sich auch informieren wollen über Politik. Sie haben also durchaus eine Berechtigung.
Aber diese Permanenz tut uns nicht gut, weil sie im Grunde das verunmöglicht, was sie gerade für Thüringen erfreulicherweise beschrieben haben, nämlich dass man auch mal eine Ruhephase hat, wo man einfach mal machen kann, ohne gleich zu befürchten, dass die nächste Umfrage das eigene Handeln wieder infrage stellt oder Panikattacken in irgendwelchen Wahlkampfteams auslöst oder dergleichen.
BIHoff: Den dritten Vorschlag, finde ich ganz großartig. Sie sagen, es braucht aus ihrer Sicht Ventile und schlagen so etwas wie eine gesellschaftliche Fuck you-Hotline vor. Sie haben da ein Beispiel eines Radiosenders und ihre Idee ist, dass jede und jeder da anrufen und der eigenen Wut Luft machen kann. Aber es gibt ein paar Regeln, wie z.B. keine persönlichen Beleidigungen, keine Wut und keinen Hass gezielt gegen einzelne Personen. Aber, und das finde ich das Spannende, jede bzw. jeder von uns muss einmal am anderen Ende der Hotline sitzen und sich die anderen Menschen anhören. Sie schreiben, wenn man dies einmal pro Monat täte, wäre dies eine Stunde Dienst an der Debattenfähigkeit unserer Gesellschaft. Wunderbar.
In gewisser Hinsicht gibt es dieses Angebot schon, weshalb ich dafür kurz Werbung machen möchte. Die unterschiedlichsten Telefonseelsorgen sind sehr bemüht, um Menschen, die bereit sind, sich an das andere Ende der Hotline zu setzen und die Telefonseelsorgen zu unterstützen. Das ist zwar nicht ganz das, was Sie vorschlagen, aber mir war es wichtig, dass sich auch hier Menschen engagieren.
Dr. Julia Reuschenbach: Diese Werbung würde ich sofort unterstützen. Das ist ein ganz wertvolles Angebot und zugleich so etwas Diskretes, von dem wir eigentlich viel zu wenig wahrnehmen. Ich würde sagen, die populärste Dimension dessen sind so Sachen, die am ehesten dann zum Beispiel im Fernsehen zu finden waren, wie Domian, wenn sich daran noch mancher erinnern.
BIHoff: Ein sehr erfolgreiches Format im Westdeutschen Rundfunk, kurz WDR.
Dr. Julia Reuschenbach: Genau. Was wir in unserem Buch vorschlagen, ist natürlich mehr eine Idee als ein Vorschlag, der unmittelbar auf Umsetzung abzielt. Denn niemand wird sagen, wir richten jetzt eine deutschlandweite Wut-Hotline ein. Ich fände es zwar witzig, wenn wir es mal ausprobieren würden, aber es geht natürlich um den Gedanken dahinter. Wer meint, er muss diesen ganzen Frust und diese Wut in die Welt hinauslassen, der oder die muss dann auch mal erleben, wie es ist, wenn man zu denen gehört, auf die das einprasselt. Und dem entziehen sich die Leute im Netz. Und zwar gerade durch die Logiken, die ich beschrieben habe, weil man sich durch Likes im Lautsein bestätigt fühlt.
Aber was passiert in dem Moment, in dem jemand sagt, „wow, krass, das teile ich überhaupt nicht“. Oder wenn man wirklich Widerspruch bekommt. Wenn jemand in Tränen ausbricht, fassungslos über die Wut und den Hass, den man gerade gehört hat. Oder was noch viel verrückter wäre, wenn jemand dann sagen würde, „ja, ich verstehe Sie. Ihren Ärger kann ich nachvollziehen. Und jetzt lassen wir uns mal gemeinsam überlegen, wie wir das lösen können. Was wäre denn Ihr Wunsch an Politik oder an Verwaltung oder wohin auch immer, wie man das ändern kann?“
Darauf zielt dieser Vorschlag in Wahrheit. Wir brauchen in einer Welt, die so durchdigitalisiert ist, die selbstverständlichen Begegnungsorte. Es wäre schön, wenn die Kneipe und das Schwimmbad noch selbstverständliche Orte wären. Sind sie aber nicht mehr, gerade in ländlichen Regionen. Ich komme aus dem Westerwald in Rheinland-Pfalz, da ist das Schwimmbad seit Jahren chronisch in roten Zahlen und von drei Dorfkneipen ist auch eine nur noch erhalten geblieben.
Und ich glaube, wir müssen alle uns fragen, nochmal zurückkommend auf den Anfang unseres Gesprächs, wenn wir uns doch einig sind, dass die Debattenkultur nicht gut ist, wie wir Gelegenheiten, Strukturen schaffen können, um sie wieder besser zu machen.
Also gehe ich in die Kneipe und unterstütze sie damit in ihrer Existenz, damit der Ort für das Dorf erhalten bleibt? Engagiere ich mich ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge? Bin ich als Politiker nahe bei meinen Wählerinnen und Wählern? Mache ich Bürgersprechstunden und alles Mögliche nicht nur im Wahlkampf, sondern auch während der Legislatur? Jeder kann sich dazu Fragen selbst stellen. Quasi vom Gartenzaun bis dahin, wie man reagiert, wenn man auf eine Lehrerin in der Schule trifft, die sich ein Bein ausreißt, damit es irgendwie läuft. Nörgele ich sie dann trotzdem an oder sehe ich, was sie versucht, und bestärke sie stattdessen in dem, was sie da tut?
Das ist das eigentliche Anliegen unseres Buches. Ich würde zum Abschluss gern einen Treppenwitz dieses Buches erzählen wollen, weil ich noch keine Gelegenheit hatte, das öffentlich zu erzählen. Wir haben von vielen gehört, was für ein differenziertes, ein kluges Buch wir geschrieben haben, dass im Grunde genau ein Plädoyer ist für das, was eine gute Debatte bräuchte. Aber uns sagten auch aufgeregte Hauptstadtjournalisten, dass es zu differenziert sei und zu freundlich. Worin denn die These bestehen würde. Denn mit einem Buch ohne eine steile, provokante These könne man nicht erwarten, irgendwohin eingeladen zu werden.
Das hat mich am Ende nochmal mehr bestärkt in all dem, was wir jetzt besprochen haben. Denn wenn das der Resonanzraum auf die Frage ist, wie wir den Menschen Mut machen, die sich Gedanken um die Debatte in Deutschland machen, dann fühlen wir uns gut bestärkt, mit unseren halbwegs konstruktiven, vielleicht auch mal ein bisschen zum Schmunzeln anregenden Vorschlägen in die Welt zu gehen und im Idealfall damit eine gute Debatte loszutreten über die Debatte.
BIHoff: Frau Dr. Reuschenbach, ich danke Ihnen für dieses spannende Gespräch.
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Hier geht's zur Folge Reparaturbonus für defekte Debatten meines Podcasts Kunst der Freiheit vom 03. Februar 2025, in dem das Gespräch mit Dr. Julia Reuschenbach nachgehört werden kann.
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Zur Person:
Julia Reuschenbach wurde 1988 im rheinland-pfälzischen Neuwied geboren. Sie studierte von 2007 bis 2012 an der Universität Bonn und von 2012 bis 2014 Politikwissenschaften und Neueste Geschichte an der Freien Universität Berlin.
Im Jahr 2022 promovierte sie wiederum an der Universität Bonn über Geschichtspolitik als Politikfeld am Beispiel der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bonn und bei der Stiftung Berliner Mauer.
Seit Mai 2022 lehrt und forscht Julia Reuschenbach zu Parteien, Wahlkämpfen und politischer Kommunikation am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. Ihre politischen Analysen sind regelmäßig nachgefragt in Funk und Fernsehen sowie diversen Podcasts.
Sie ist Autorin und Herausgeberin verschiedener historischer und politikwissenschaftlicher Publikationen und veröffentlichte im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Journalisten Korbinian Frenzel beim Suhrkamp Verlag das Buch „Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen“.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.