12.02.2025
Kultur

Ein Abend wie mein SPEX-Abonnement

Während meines Studiums abonnierte ich für ein oder zwei Jahre die Zeitschrift SPEX - Magazin für Popkultur. Nach der Punkband X-Ray Spex benannt, prägte die 1980 gegründete Zeitschrift, die bedauerlicherweise auch der Krise des Printmarktes zum Opfer fiel und nach 38 Jahren ihr Erscheinen einstellte, den Diskurs über Popkultur und Musik in Deutschland.

Diedrich Diederichsen, Hans Nieswandt, Mark Terkessidis oder auch Dietmar Dath gehörten zum Autor:innenteam des Magazins. Mir gefiel an der Zeitschrift der Mix aus reflektierten gesellschaftspolitischen Beiträgen und den Besprechungen von Bands und Alben, von denen ich im Leben vorher noch nie gehört hatte. Kopfschüttelnd las ich die Platten- und Festivalkritiken, erstaunt darüber, was man aus Musik heraushören und in Songs hineinlesen kann. Faszinierend.

Im gestrigen Popsalon, veranstaltet im Deutschen Theater Berlin, hatte ich ein angenehmes SPEX-Déjà-vu.

Der Popsalon feiert im diesjährigen Oktober seinen 10. Geburtstag und wird moderiert von den renommierten Kultur- und Popkritikern Jens Balzer und Tobi Müller.  Balzer war stellvertretender Feuilletonchef der Berliner Zeitung, schreibt für diverse Zeitungen und lehrt Popkritik an der Universität der Künste Berlin. Der gebürtige Schweizer Tobi Müller ist ebenfalls Journalist, Autor von Theaterstücken und Radiofeatures. Sein Dokumentarfilm A1 - Ein Streifen Schweizer Straße gewann 2016 den Zürcher Fernsehpreis.

In einer Ankündigung für eine ältere Ausgabe des Popsalons hieß es einmal: „Balzer und Müller sind Freunde des Risikomoderierens und laden deshalb oft Leute ein, die weit weg ihrer eigenen Merkmale und Fähigkeiten anzusiedeln sind: sehr gut aussehende Männer zum Beispiel, oder Gäste, die über Musik reden wollen. Für Popkritiker ist letzteres ein bisschen so, als müsste jemand aus der Lüneburger Heide etwas über hochalpine Regionen erzählen oder umgekehrt ein Bergler den Biorhythmus von Heidschnucken beschreiben.“

Auch passend für Dr. Carsten Brosda, den Gast des Popsalons am gestrigen eiskalten Februarmontag. Denn der langjährige Hamburger Senator für Kultur und Medien, der die Rolle des ideellen Gesamtintellektuellen der SPD souverän ausfüllt, zieht sich bekanntlich in die Lüneburger Heide zurück, wenn er wieder einmal neben seiner politischen Arbeit und der des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins ein neues Buch publiziert.

In seinem vorerst letzten Buch Mehr Zuversicht wagen, erschienen 2023 beim Verlag Hoffmann und Campe, machte er sich Gedanken darüber, „wie wir von einer sozialen und demokratischen Zukunft“ erzählen können. Brosdas Aufruf, mehr Zuversicht zu wagen, ist eine Wiederentdeckungsreise nach zuversichtlichen Erzählungen aus Literatur, Film, Popmusik und Politik. Auf Spotify ist eine Playlist aller im Buch erwähnten Songs abrufbar.

Und Ahnung von Musik hat Carsten Brosda ebenso wie Leidenschaft, darüber zu reden. Über die Unmittelbarkeit sehr grundsätzlicher Konzepte, die sich in Musik abbilden und über Bruce Springsteen, den Brosda musikalisch verehrt und – wie sollte es anders sein – als Sozialdemokraten identifiziert.

Im Popsalon wechseln sich Gespräche, die Balzer und Müller mit ihrem Gast führen, und Musikvideos ab. Der erste Einspieler zeigt Brosda am 18. Dezember 2020 auf der Bühne im Hamburger Klub Knust gemeinsam mit der Band Das Weeth Experience. Während die Band spielt, liest Brosda aus seinem Lockdown-Buch Ausnahmezustand. Notwendige Debatten nach Corona. Im Gespräch mit Jens Balzer erzählt er die Hintergründe des 48-minütigen Stücks, das auf 525 LPs limitiert, das Willy-Brandt-Zitat „Nichts kommt von selbst, und wenig ist von Dauer“ trägt.

Balzer und Brosda diskutieren darüber, dass und welche notwendigen Debatten nach Corona nicht geführt wurden und über die Ideologie konservativer Sparorgien im Kulturbereich. Einig sind sich die beiden Moderatoren und der Gast über die Gefahren für Kulturinstitutionen, die sowohl von neurechten Kulturkämpfen ausgehen als auch einer übergriffigen Indienstnahme von Kunst, Kultur und ihren Akteur:innen zur Demokratievermittlung.

Von Springsteen war bereits die Rede und der erste von Brosda mitgebrachte Musikbeitrag ist das Stück „Racing in the Street“. Hier die Live-Fassung aus dem Paramount Theatre 2009. Wie Müller und Brosda in der Bühnenbeleuchtung Schmelzöfen und Stahlwerke identifizieren, sich anekdotisch die Bälle zuwerfen und Striptease von FKA Twigs analysieren, ist es wieder da, das SPEX-Déjà-vu: Faszinierend.

Anders als Springsteen ist Roland Kaiser nicht nur tatsächlich Sozialdemokrat, sondern auch SPD-Mitglied. Sein neuer Song Achtung und Respekt holt musikalisch niemand aus dem Publikum ab und auch das Video steht in hartem Kontrast zu FKA Twigs oder Mirror von The Weather Station.  

Wie Balzer, Müller und Brosda jedoch über Roland Kaiser, die subversive Wirkung einer zwischen Santa Maria und Fremgeh-Songs in den Vordergrund geschmuggelten Diversitäts- und Toleranzbotschaft von Anstand und Respekt diskutieren, hat nicht nur alles, was reflektierte Popkritik erwarten lässt, sondern was man in jeder Talkshow à la Lanz, Hart aber fair etc. vermisst: ein Interesse am Argument, nicht am Setzen eines Narrativs im Zehn-Worte-Statement. Mehr solche Déjà-vu-Abende bitte.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.