Die Linke in Palästina: Geschichte eines Niedergangs
Im österreichischen mandelbaum verlag veröffentlichte Thomas Schmidinger eine Geschichte der politischen Linken in Palästina, mit der eine bedeutsame Lücke geschlossen wird. Angesichts oft meinungsstarker, aber nicht selten wenig kenntnisreicher Äußerungen oder gar Ratschläge aus der deutschsprachigen Linken zur Situation in Palästina und Israel bietet Schmidingers Einführung eine wichtige Orientierung, der eine breite Rezeption zu wünschen ist.
Seit fast dreißig Jahren veröffentlicht der inzwischen als Genossenschaft geführte Wiener mandelbaum verlag politisch engagierte Bücher in seiner Reihe kritik & utopie. Unter dem Titel „Die Linke in…“ sind dort bereits Bände zur Linken im Baskenland, auf den Philippinen, in Italien, Schweden, China und Österreich erschienen. Der neueste Band widmet sich nun Der Linken in Palästina.
Der Autor Thomas Schmidinger ist Associate Professor und Leiter des Department of Politics and International Relations an der University of Kurdistan Hawlêr im Irak. Zudem unterrichtet er an der Universität Wien und an der Fachhochschule Oberösterreich. Er gilt als Experte für kurdische Studien und Nahostpolitik.
Das mit weniger als 160 Seiten vergleichsweise schmale Büchlein versteht sich als Einführung und füllt dennoch die Lücke einer bisher kaum vorhandenen deutschsprachigen systematischen Übersicht über die politische Linke in Palästina.
In englischer Sprache erschien 2020 bei palgrave macmillan von Francesco Saverio Leopardi The Palestinian Left and Its Decline. Leopardi beschreibt darin die historische Entwicklung und den Niedergang der palästinensischen Linken, insbesondere der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) als „loyale Opposition“ der Fatah.
Schmidingers Darstellung hat einen weiteren Fokus und bezieht die Entwicklung seit dem 7. Oktober 2023 ein. Damit dürfte sein Buch gegenwärtig als Standardwerk zum Thema gelten.
Was bedeutet „links“ in Palästina und woher stammt die palästinensische Linke?
Eine Analyse der palästinensischen Linken erfordert, wie Schmidinger deutlich macht, verschiedene Konkretisierungsebenen. Das Unterschiedsmerkmal „links“ definiert sich in der palästinensischen Politik weder in der Positionierung im israelisch-palästinensischen Konflikt noch im Verhältnis zur Gewaltfrage oder im Bezug zur Nation, sondern – so Schmidinger – dadurch, „ob eine Gruppierung über das konkrete Ziel einer wie auch immer gearteten ‚nationalen Befreiung‘ der PalästinenserInnen hinaus eine progressive Veränderung der palästinensischen Gesellschaft anstrebt, d.h. ob eine Gruppierung zumindest […] auch für mehr Gleichheit in der palästinensischen Gesellschaft eintritt oder eingetreten ist“ (S. 9)
Darüber hinaus hat die palästinensische Linke zwei Ursprünge:
Eine im Mandatsgebiet Palästinas entstandene Linke als „Teil der nach der Oktoberrevolution entstandenen globalen kommunistischen Bewegung […] sowie ihren Ursprung in Gruppen linkssozialistischer und kommunistischer Juden hat, die ihre Organisationen arabisierten und die Ideen des Kommunismus in die arabischen Gesellschaften zwischen Jordan und Mittelmeer trugen“ bzw. arabischen nichtkommunistischen Arbeiter:innenorganisationen mit überwiegend gewerkschaftlicher Orientierung in einem ambivalenten Spannungsverhältnis zu den Kommunist:innen;
Und zum anderen jene Organisationen, die aus dem (pan-)arabischen Nationalismus entstanden und „sich im Wesentlichen erst nach der Staatsgründung Israels und der Massenflucht und Vertreibung der arabisch-palästinensischen Bevölkerung, die im palästinensischen Geschichtsbild als Nakba (‚Katastrophe‘) in Erinnerung blieb, politisierte und sich im Zuge politischen und bewaffneten Widerstands gegen Israel […] nach links entwickelte“ (S. 10).
Im Scheitern des Versuchs, eine binationalen jüdisch-arabische Arbeiter:innenbewegung im britischen Mandatsgebiet zu etablieren, datiert Schmidinger den von ihm skizzierten langen Niedergang der palästinensischen Linken. Die Ablehnung des UN-Teilungsplans 1947 führte zur militärischen Niederlage der arabischen Staaten im Krieg von 1948 und zur Nakba, die eine spezifisch palästinensische politische Bewegung hervorbrachte. Beide Hauptströmungen der palästinensischen Linken entwickelten sich in unterschiedlichen Kontexten, erlebten jedoch zeitglich nach dem Oslo-Prozess und im Zuge der ersten und zweiten Intifada einen Niedergang und sind inzwischen Randfiguren des dominanten Konkurrenzverhältnisses zwischen Fatah auf der einen und der Hamas auf der anderen Seite.
„Eine Beschäftigung mit der palästinensischen Linken ist heute überwiegend historische Arbeit.“ (Thomas Schmidinger)
Historische Brüche, konkurrierende Strömungen, marginaler Einfluss von Frauen
Schmidinger geht in seiner Arbeit vorwiegend chronologisch vor. Jede der von ihm betrachteten historischen Etappen einerseits und andererseits in den Territorien (Israel, Gaza, Westjordanland, Diaspora) jeweils konkret vorherrschenden Bedingungen führte zu spezifischen positiven und negativen Entwicklungsbedingungen für linke palästinensische Organisationen und Strömungen. Schmidinger Darstellung widmet sich in diesem Sinne der Linken in Palästina unter britischem Mandat; nach der Staatsgründung Israels, in den besetzten Gebieten und der Diaspora; zwischen 1948 und 1967 in der Westbank bzw. im Gazastreifen; in den besetzten Gebieten sowie der Diaspora von 1967 bis 1987; vor und nach der ersten Intifada, dem Oslo-Prozess sowie der zweiten Intifada.
Sachkundig und präzise erläutert Schmidinger das Verhältnis zwischen den Organisationen, die nach der Nakba in Gaza und der Westbank verblieben, und jenen, die ins Exil nach Jordanien, Syrien oder in den Irak gingen. Das von ihm gezeichnete Panorama der unterschiedlichen Strömungen der politischen Linken in Palästina ist auch eine Geschichte der Konkurrenzen und Spaltungen ist. Eine grafische oder tabellarische Darstellung der verschiedenen Gruppierungen und Persönlichkeiten wäre an mancher Stelle wünschenswert und hilfreich, um den Überblick nicht zu verlieren.
In der deutschsprachigen Linken wohl weitgehend unbekannte Intellektuelle wie Ghassan Kanafani, Mahmoud Darwish aber auch Fadwa Touqan als eine der viel zu wenigen Frauen, denen Einfluss zugesprochen wurde, werden von Schmidinger ebenso aufgeführt und kenntlich gemacht, wie die bedeutsame Rolle beispielsweise der American University of Beirut, an der Constantin Zureiq „eine ganze Generation junger Intellektueller aus dem gesamten arabischen Osten beeinflusste“ (S. 55).
So verständlich das Bemühen des Autors ist, die Einführung nicht zu umfangreich ausfallen zu lassen, hätte man sich an dieser aber auch an anderen Stellen mehr Details und eine vertiefte Darstellung gewünscht. Da die einzelnen Bände der Reihe „Die Linke in…“ zwischen 128 Seiten (Baskenland) und 400 Seiten (China) umfassen, wäre dafür in einer hoffentlich zweiten und dann erweiterten Auflage Raum dafür.
An verschiedenen Stellen, insbesondere aber in seiner Darstellung der ersten Intifada, geht Schmidinger auf die Rolle der Frauen in der fast ausschließlich von Männern dominierten und durch männliche Konkurrenzen immer wieder gespaltenen palästinensischen Linken ein. Eine Geschichte der palästinensischen Linken aus der Perspektive des Kampfs um Selbstbestimmung der Frauen, bleibt noch zu schreiben.
Vor inzwischen zwanzig Jahren, 2005 und 2006, fanden die letzten Wahlen statt, an denen die Palästinenser:innen den Präsidenten bzw. den Legislativrat wählen konnten. Die palästinensische Linke, die sich nach dem Ende der Blockkonfrontation und der Auflösung der Sowjetunion wie in anderen Ländern und Regionen auch transformierte, hatte bei diesen Wahlen außer singulären Achtungserfolgen keine Bedeutung. Auch darüber berichtet Schmidinger, dessen Buch mit der palästinensischen Linken nach dem Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem brutalen Vorgehen Israels im Krieg um Gaza abschließt.
Zerrieben und nicht mehr erkennbar zwischen Fatah und Hamas
Die Ursachen des Niedergangs der palästinensischen Linken sieht Schmidinger im Wesentlichen in der Fokussierung auf die nationale Frage bei gleichzeitigem Versäumnis, progressive Antworten auf die alte soziale Frage und neue gesellschaftliche Fragen zu finden.
Themen wie die Gleichberechtigung der Geschlechter und eine auch dadurch sich vollziehende Veränderung der palästinensischen Gesellschaft, die Überwindung der dramatischen sozialen Ungerechtigkeit, auch in Folge der himmelschreienden Korruption in der PLO und der Autonomiebehörde sowie die Überwindung der grassierenden Armut in Folge der israelischen Besatzung wurden vernachlässigt. Eine Erkennbarkeit und Unterscheidbarkeit der palästinensischen Linken zur Fatah und der Hamas und deren Vorfeldorganisationen war damit nicht mehr vorhanden.
Exemplarisch zitiert Schmidinger den früheren Kommunisten Bashir Barghuthi, der zur Umbenennung der Kommunistischen Partei in „Volkspartei“ ausführte: „Als eine kommunistische Partei hätten wir uns auf die soziale Frage konzentrieren müssen. Für uns steht jedoch der Kampf um unser Land und unsere Heimat im Vordergrund. Wir brauchen erst ein Land, bevor wie einen sozialen Kampf um soziale Rechte führen können.“ (S. 87)
In einer solchen Situation ist der Weg zur Integration religiöser Narrative als ideologischen Überbau, den ein Teil ursprünglich maoistischer Gruppen bereits früher vollzog, nicht weit. Die linke politische Identität verwässerte zunehmends. Infolgedessen kam es zu einer ideologischen Annäherung an konservative Kräfte, was nicht zur Stärkung der palästinensischen Linken, sondern vielmehr zur verstärkten Legitimierung der religiösen Fundamentalisten der Hamas führte. Ihr war es nämlich gelungen, den Kampf der Palästinenser um Eigenstaatlichkeit gegen Israel in einen Kampf der Muslime gegen Jüdinnen und Juden umzuwandeln.
Die in der Tradition der politischen Linken entstandenen Parteien wie PFLP und DFLP sind heute ideologisch indifferent, isoliert und politisch irrelevant, wie Schmidinger aber auch Leopardi zeigen. Ähnlich steht es um Mustafa Barghuthi und seine Partei PNI. „Während einige Jugendliche sich von der etablierten linken Politik abwenden und entweder NGOs gründeten [ihnen widmet Schmidinger einen eigenen Abschnitt im Buch, ebenso randständigen Gruppen wie Trotzkist:innen und Anarchist:innen] oder zornige Manifeste verfassten, wurden PFLP und DFLP zu Bündnispartnern der Hamas und beteiligten sich schließlich am 7. Oktober 2023 aktiv an der ‚al-Aqsa-Flut‘.“ (S. 151)
Bitteres Fazit und wenig Grund für Optimismus
Auch darin zeigt sich die Unfähigkeit der palästinensischen Linken eine, wie es Schmidinger formuliert, „eigenständige Vision einer palästinensischen Befreiung zu formulieren und diese zu erneuern“. Dafür gibt es Gründe, die Schmidinger ebenfalls benennt, was nichts am bitteren Fazit ändert, mit dem dieser wichtige Überblick über die Geschichte der palästinensischen Linken und ihres Niedergangs abschließt:
„All diese Fragen sind im Kontext des aktuellen Krieges in Gaza, der aufgrund der massiven zivilen Opfer auf palästinensischer Seite von den meisten PalästinenserInnen als Genozid wahrgenommen wird, kaum diskutierbar. Genau dies trägt allerdings zur derzeit so ausweglos wirkenden Situation beim deren Hauptleidtragende wieder einmal die ZivilistInnen sind bzw. genau jene ‚Massen‘, auf die die Linke immer gesetzt hatte.“
Thomas Schmidingers Die Linke in Palästina ist eine prägnante Einführung und unverzichtbare Lektüre für alle, die sich für die Geschichte der palästinensischen Linken interessieren. Es bietet nicht nur eine kritische Analyse ihres Niedergangs, sondern auch Denkanstöße, was eine künftige progressive Bewegung in Palästina leisten könnte.
Thomas Schmidinger: Die Linke in Palästina. Eine Einführung., mandelbaum kritik & utopie, Wien 2024 (ISBN: 978-3-99136-511-2)

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.