26.01.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Kultur

Zwischen Authentizität und Inszenierung: Mythenbildung in der Kunst

Die Ausstellung „Saving Private Mythologies“ in der Leipziger Galerie Intershop widmet sich der Selbstmythologisierung von Künstler:innen, bleibt jedoch an der Oberfläche. Ein Besuch lohnt sich trotzdem – sei es für das Kunst- und Kreativwirtschaftsareal der historischen Baumwollspinnerei oder die beeindruckende Architektur der "Oscar Niemeyer Sphere".

Menschen erschaffen Mythen. Menschen sehnen sich nach Mythen. Mythen prägen Kunst, Politik und gesellschaftliche Selbstbilder gleichermaßen. Donald Trump etwa inszenierte sich am Tag seiner Amtseinführung als unversehrter Held, der einen „mythischen Kampf“ überlebt habe. Gott selbst, so Trump, habe ihn vor dem während des Wahlkampfs auf ihn verübten Attentat bewahrt, damit er nun als Präsident wirken könne. Solche Narrative sind keine Randerscheinung – sie sind fester Bestandteil öffentlicher Inszenierungen und kollektiver Identitätsbildung. Passend dazu widmet sich die Ausstellung „Saving Private Mythologies“ in der Galerie Intershop in Halle 10 der Leipziger Baumwollspinnerei bis zum 8. Februar 2025 dem Thema der Mythenbildung. Die Ausstellung thematisiert, wie Künstler:innen über sich selbst Mythen erschaffen und ihre Werke mit Bedeutungen aufladen. Doch während das Konzept vielversprechend klingt, hinterließ der Besuch der Ausstellung einen zwiespältigen Eindruck.

Angeregt durch ein Interview von Katharina Cichoch mit Il-Jin Atem Choi, dem Leiter der Produzentengalerie, für das Monopol Magazin, war die Erwartung an die Ausstellung hoch. Choi sprach darin über die strategische Mythenbildung von Künstler:innen und die Mechanismen, die Werke mit zusätzlichen Bedeutungsebenen aufladen. Die Ankündigung der Ausstellung auf der Webseite der Galerie ließ ebenfalls auf eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema hoffen.

Der Künstlermythos, sagt Il-Jin Atem Choi, "ist Black Box. Der Mythos kommt in der Regel erst im Nachhinein, wenn der Erfolg schon da ist. Dann fragt man sich: Wie hat die oder der das gemacht? Die waren doch in derselben Klasse wie ich und haben nur rumgelungert! Nichts Schlaues gesagt oder irgendetwas Gutes produziert, und jetzt sind sie plötzlich die Superstars!"

Vor Ort zeigte sich ein etwas anderes Bild. Zwar konnten Besucher:innen die bereits online verfügbaren Informationen als laminierte Ausdrucke zur Hand nehmen, doch wer sich eine tiefere Auseinandersetzung mit den individuellen Mythen der ausgestellten Künstler:innen erhoffte, wurde enttäuscht. Welche Erzählungen prägen die Selbstinszenierung der Künstler:innen? Inwiefern spielen Authentizität und Konstruktion in ihren Biografien eine Rolle? Welche gesellschaftlichen Dynamiken spiegeln sich darin wider? Auf solche Fragen blieb die Ausstellung eine Antwort schuldig. Die Werke standen weitgehend für sich, ohne dass ihre Verflechtung mit künstlerischen Selbstmythen weiter ausgeführt wurde. Andererseits ist eine Galerieausstellung keine Museumsausstellung, sind die finanziellen und zeitlichen Kapazitäten der Kuratierung vollkommen andere. Insoweit dürfen die Erwartungen auch nicht zu hoch geschraubt werden.

Gleichwohl gäbe es zu diesem Thema viel zu entdecken und zu erzählen. Künstler:innen und ihre Werke sind seit Jahrhunderten von Mythen umgeben, die ihre Bedeutung steigern und sie als außergewöhnlich inszenieren. Diese Mythenbildung zeigt sich sowohl in Biografien als auch in der Rezeption ihrer Werke.

Die Vorstellung des Genies spielt dabei eine zentrale Rolle. Wolfgang Amadeus Mozart wurde als Wunderkind verklärt, dessen Talent jenseits menschlicher Fähigkeiten lag. Vincent van Gogh und Frida Kahlo wurden als leidende Genies stilisiert, deren persönliches Schicksal untrennbar mit ihrer Kunst verbunden sei. Andy Warhol hingegen entwarf ein bewusstes Gegenmodell, indem er sich als kühler Beobachter der Konsumgesellschaft inszenierte und dadurch einen neuen Mythos um seine Person schuf.

In der zeitgenössischen Kunst wird diese Tradition strategisch weitergeführt. Marina Abramović stilisierte sich als Grenzgängerin, die physische und psychische Extremzustände in Performances wie The Artist Is Present sichtbar machte. Ihre Erzählung von der „Kunst des Leidens“ verleiht ihrem Werk eine fast spirituelle Dimension, wurde aber auch als kalkulierte Selbstmythisierung kritisiert. Damien Hirst kultiviert den Mythos des provokativen Marktstrategen, der mit Werken wie The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living (dem berühmten Hai in Formaldehyd) und spektakulären Auktionen gezielt das Narrativ eines skrupellosen, aber genialen Geschäftsmanns bedient. Ai Weiwei wiederum verbindet seine künstlerische Praxis mit politischem Aktivismus und konstruiert sich so als globaler Dissident und Freiheitskämpfer.

Diese Selbstmystifizierungen folgen häufig dem Prinzip der Authentizität: Künstler:innen erscheinen als „authentische“ Schöpfer:innen, deren Leben und Werk untrennbar miteinander verwoben sind. Doch, wie Pierre Bourdieu in Die Regeln der Kunst  darlegte, ist der Kunstbetrieb maßgeblich von symbolischen Kämpfen geprägt. Authentizität und Originalität sind oft nicht naturgegeben, sondern werden strategisch erzeugt, um Macht und Anerkennung in einem hochkompetitiven Feld zu sichern.

Die mythische Überhöhung von Kunst und Künstler:innen regt immer wieder auch Kritik an. Feministische und postkoloniale Theorien hinterfragten den exklusiven Geniebegriff, der lange Zeit weißen, männlichen Künstlern vorbehalten blieb. Künstler:innen wie Sophie Calle oder Kara Walker arbeiten gezielt mit der Dekonstruktion solcher Narrative und entlarven sie als gesellschaftlich konstruierte Zuschreibungen.

Umso spannender ist, dass die Galerie Intershop das Fenster zu diesem Themenfeld ein Stück weit öffnete und zur eigenen Beschäftigung einlädt. Die großformatigen Werke von Thomas Hirschhorn und Michael Riedel, die Aquarelle von Anna Kautenburger oder die psychedelisch anmutenden Werke „Shinin Wavelet - Total Eclipse Crust Change“ bzw. „Red Lightning no. 2“ von Koon Kwon bilden dafür einen hervorragenden Rahmen.

Wünschenswert wäre es, wenn eine größere Institution – etwa das Museum der Bildenden Künste Leipzig – die von der Galerie Intershop aufgeworfene Fragestellung aufgreifen und weiterentwickeln würde. Eine systematische Untersuchung der Mythenbildung in der Kunst könnte historische und zeitgenössische Positionen miteinander verbinden und einen differenzierteren Blick auf die Mechanismen ermöglichen, die Künstler:innen und ihre Werke mit Bedeutung aufladen.

Wer sich auf den Weg zur Leipziger Baumwollspinnerei gemacht hat, sollte Zeit mitbringen. Einst die größte Baumwollfabrik Kontinentaleuropas, ist das Gelände heute ein bedeutender Produktions- und Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst. Neben der Galerie Intershop befinden sich dort 14 weitere Galerien, darunter The Grass is Greener, wo bis zum 22. Februar 2025 Werke von Feng Lu und Cyril Massimelli zu sehen sind. Der Rundgang über das Gelände gibt einen Eindruck von der Vielfalt der Leipziger Kunst- und Galerieszene und bürstet manches weiterhin bestehende Vorurteil über Ostdeutschland gegen den Strich.

Die Baumwollspinnerei ist ein beliebter Ort der Medien- und Kreativwirtschaft. In wenigen Wochen werden dort die jährlichen mitteldeutschen Medientage stattfinden. Nur fußläufig von dem mit der Regional- und Straßenbahn am Bahnhof Leipzig-Plagwitz gut erreichbaren Kulturort, ist seit 2020 das architektonische Highlight der „Oskar Niemeyer Sphere“ zu besichtigen. Dort verhandelten im Herbst des vergangenen Jahres die Ministerpräsident:innen der Länder über die Kernpunkte der künftigen Ausrichtung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die schließlich im Dezember beschlossen wurde.

Bei der „Oskar Niemeyer Sphere“ handelt es sich um ein beeindruckendes posthum realisiertes Werk des brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer, der in der Tradition des Bauhauses stand. Die Kugel mit einem Durchmesser von 12 Metern besteht aus makellosem Weißbeton und gibt augenscheinlich vor, nur zufällig auf der Ecke der fast 100 Jahre alten Backsteinhalle zu sitzen. Tatsächlich ist sie an einem massiven roten Betonschaft befestigt, der sie etwa acht Meter über dem Boden schweben lässt. Im Inneren beherbergt sie auf mehreren Ebenen eine Bar und ein Restaurant. Der Entwurf stammt aus dem Jahr 2011, ein Jahr vor Niemeyers Tod, und wurde 2020 fertiggestellt. Peter Richter formulierte seinerzeit in der Süddeutschen Zeitung:

„Der kleine, nur drei Millionen Euro teure Bau in Leipzig-Plagwitz ist nicht der einzige, der nach dem Tod des Meisters unter Aufsicht seines Büros posthum noch fertiggestellt wurde und wird, aber er ist selbst im gewaltigen Werk dieses Jahrhundertarchitekten besonders phänomenal. Denn eigentlich war Niemeyer zwar wesentlich dafür bekannt, die kühle und kistenförmige Moderne der Bauhaus-Tradition mit heiteren, von Sonne, Samba, Bergen und Strandschönheiten inspirierten Schwüngen aufgetaut und tropikalisiert zu haben, bis Gralshüter der Geradlinigkeit wie Max Bill erbittert über solche vermeintlichen Frivolitäten ihre strengen Häupter schüttelten. Aber dermaßen konsequent zur Kugel hatten sich seine Kurven noch nie vollendet.“

Anders als in der Baumwollspinnerei wird um die „Oskar Niemeyer Sphere“ herum noch industriell gefertigt. Ehemals zu den sowjetischen „Kirow Werken“ gehörend, produziert die Kirow Ardelt GmbH bis heute Straßenbahnen und Lastkräne. Die Sphere war und ist als Ergänzung der Betriebskantine gedacht, als Restaurant für „feine Küche und kleine Feste“, wie Firmeninhaber Ludwig Koehne gegenüber der Süddeutschen Zeitung bekannte. In der Oskar Niedermeyer-Straße in Leipzig und der dazugehörenden „Oskar Niemeyer Sphere“ lebt insofern ein architektonischer Mythos fort, der dekonstruiert und kritisiert werden darf und insoweit exakt das tut, wozu Mythen anregen – zum Diskurs.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

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Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.