Opfer ohne Stolpersteine: Von den Rändern der Gesellschaft ins Zentrum der Erinnerung
Die Ausstellung „DIE VERLEUGNETEN Opfer des Nationalsozialismus 1933 - 1945 - heute “ in Berlin widmet sich den als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ stigmatisierten Opfern des NS-Regimes – und der erschreckenden Kontinuität sozialer Diskriminierung bis heute.
Die sogenannten Stolpersteine, mit denen die jeweils letzten Wohnadressen von Personen markiert werden, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden, sind ein Politikum. Im sachsen-anhaltinischen Zeitz wurden vor einiger Zeit systematisch die Stolpersteine ausgegraben und gestohlen, um auf diese Weise die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus zu stören und den Opfern sowie ihren Familien neues Unrecht anzutun. An anderen Orten werden die Stolpersteine übermalt oder auf andere Weise geschändet.
Dagegen regt sich öffentlicher Protest und viele Menschen kümmern sich aufopferungsvoll um die mehr als über 100.000 Stolpersteine in den Gehwegen in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Ländern.
Wo aber, fragt die Ausstellung „Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – heute“, verlegt man Stolpersteine zum Beispiel für diejenigen Menschen, die, weil sie wohnungslos waren, als sogenannte Asoziale verfolgt und vernichtet wurden?
Die sozialrassistische Verfolgungspolitik der Nationalsozialist:innen steht im Zentrum der Ausstellung, die von der Stiftung für die ermordeten Juden Europas gemeinsam mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg initiiert und kuratiert wurde von Dr. Ulrich Baumann, Oliver Gaida, Laura López Mras sowie Dr. Christa Schikorra. Zu sehen ist sie noch bis zum 31. Januar 2025 in Berlin, anschließend soll sie als Wanderausstellung gezeigt werden.
Stigmatisierung und Ausgrenzung von sogenannten "Asozialen", "Arbeitsscheuen" und anderen Gruppen, die als gesellschaftlich unerwünscht galten, wurzelte tief in den sozialen und politischen Strukturen Deutschlands vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Bereits im Kaiserreich und der Weimarer Republik existierten rechtliche und administrative Praktiken, die eine Grundlage für die nationalsozialistische Verfolgung boten. Die Nationalsozialist:innen konnten daher auf bestehende Regelungen, Diskurse und soziale Vorurteile zurückgreifen und diese verschärfen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben viele diskriminierende Praktiken gegenüber sozial marginalisierten Gruppen, insbesondere auch gegenüber Sinti und Roma bestehen. Bestehende Gesetze und Verwaltungspraktiken blieben in der DDR, der BRD und in Österreich bestehen und wurden erst spät hinterfragt.
Spaltung und Hierarchisierung in den Konzentrationslagern
In den Konzentrationslagern setzte die SS auf eine bewusste Strategie der Spaltung und Hierarchiebildung unter den Häftlingen. Diese diente dazu, die Häftlinge zu kontrollieren, Solidarität zu verhindern und die Verantwortung für den Lageralltag teilweise auf die Insassen selbst zu übertragen. Häftlinge wurden durch farbige Winkel (z. B. rot für politische Gefangene, grün für "Berufsverbrecher", schwarz für "Asoziale", rosa für homosexuelle Männer, braun für Sinti und Roma) gekennzeichnet. Diese Kennzeichnungen repräsentierten zugleich umkämpfte Hierarchisierungen. Die politischen Häftlinge und kriminellen Gefangene wurden bei der Vergabe von Funktionen an Häftlinge bevorzugt, während Sinti und Roma sowie als "asozial" Stigmatisierte am unteren Ende der Hierarchie standen.
Auch nach der Befreiung der Konzentrationslager 1945 blieben die sozialen Hierarchien und Stigmata in vielen Fällen bestehen. Dies betraf sowohl das Verhältnis zwischen verschiedenen Gruppen der ehemaligen Häftlinge als auch die gesellschaftliche Anerkennung von Opfern. Berichte zeigen, dass auch nach der Befreiung Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen ehemaliger Häftlinge bestanden. Beispielsweise wurden sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" oft auch von anderen Überlebenden marginalisiert. Die gesellschaftliche Anerkennung und Rehabilitierung diskriminierter Opfergruppen wie Sinti und Roma, homosexuelle Männer und als "asozial" stigmatisierte Personen erfolgten erst spät und bleiben bis heute ein wichtiger Bestandteil der historischen Aufarbeitung.
Betroffene erhalten Namen, Persönlichkeit und eigene Geschichte zurück
An dieser Stelle setzt die Ausstellung an. Indem die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus zum Gegenstand des Erinnerns gemacht werden, erhalten sie Namen, Persönlichkeiten und eine eigene Geschichte zurück. Die Besucher:innen wiederum werden mit der Wirkungsmächtigkeit eigener Klischees und Vorurteile konfrontiert. Woran denken wir, wenn wir an die Opfer des Nationalsozialismus denken? Wie vielfältig sind die Lebenswelten, die wir als „normal“ oder akzeptabel erachten und damit einhergehend, wieviel Ausschluss betreiben wir ungewollt und unbewusst, indem wir uns bestimmte Opfergruppen gar nicht vor Augen rufen.
Die Ausstellung, die aufgrund nur wenig vorhandenen tatsächlichen privaten Bildmaterials der exemplarisch ausgewählten Personen mit einem Mix aus Photos, Zeichnungen und Video- sowie Tondokumenten arbeitet, beginnt mit dem Abschnitt Lebenswelten. Denn:
„Die Straße ist Begegnungsraum. Sie steht für die Vielfalt von Lebenswelten zwischen Reichtum und Armut, Kontrolle und Aufbegehren.“
Liddy Bacroff, die ihre Geschlechtsidentität wechselt; Manfred Bastubbe aus dem Umfeld der Organisierten Kriminalität; Sibilla Rombach die ihrem engen kleinbürgerlich-katholischen Elternhaus entflieht und 1943 von der Mutter bei der Polizei angezeigt wird; Luise Bauder, die in Not und Gewalt aufwächst und einen Teil ihrer Jugend in Heimen verbringt – ihre Geschichten und die weiterer konkreter Personen bilden das Panorama, vor dessen Hintergrund die Besucher:innen in der Ausstellung durch die Kapitel „Definitionsmacht und Ausschluss“ durch autoritäre Sozialpolitik, „Gewalt und Terror“ im NS-Staat, „Krieg und Vernichtung“ sowie „Verleugnung in Gesellschaft und Familie“ der Nachkriegsgesellschaften geführt werden.
Konfrontation mit fortbestehenden Klischees über Armut und Arbeitsverweigerung
Dem Sozialhistoriker Stefan Leibfried verdanken wir die leider auch im gegenwärtigen Diskurs um das Bürgergeld verschüttete Erkenntnis, dass die Geschichte der deutschen Sozialpolitik auf Segregation und den Verzicht sowohl auf eine Produktionspolitik der Mindestlohngesetzgebung als auch auf eine Reproduktionspolitik der umfassenden Bedarfssicherung beruhte. Mit Wirkung auch auf die Arbeiter:innenbewegung, wie Leibfried betonte:
„Die organisierte, parlamentarisch aktive Arbeiterbewegung war wesentlich von klassen- wie selbstbewußten qualifizierten Arbeitern getragen, die sich selbst gern ‚nach unten‘ abgrenzten. Arbeitersolidarität war begrenzt und Philanthropie galt als Sache des Bürgertums. ‚Unten‘ war die politisch und sozial diskriminierte Armenbevölkerung mit ihren Arbeitern ohne ausreichendes Arbeitsvermögen oder vorhandene Arbeitsgelegenheit […] Betroffen von Not, Kontrolle und Hilfe waren insoweit vor allem jene Bevölkerungsgruppen, denen von vornherein die normalen Grundinstitutionen privater Existenzsicherung, ‚Selbsthilfe und Arbeit‘, nicht zur Verfügung standen, sowie - bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts – die vielfach übersehenen, obwohl recht umfänglichen Gruppen der Armen, vor allem alte Arbeiter und von ihnen zurückgelassene unvollständige Familien […].“ (Leibfried 1982: 21f.)
Menschen, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung lebten, wurden bereits im 19. Jahrhundert als "arbeitsscheu" oder "asozial" diffamiert. Sie wurden polizeilich überwacht, kriminalisiert und oft in Arbeitshäusern untergebracht. Das preußische Gesetz gegen Landstreicherei, Bettelei und Arbeitsscheu (1900) zielte darauf ab, "unerwünschte Elemente" zu kontrollieren und durch Zwangsarbeit zu "disziplinieren".
Arbeitshäuser waren Einrichtungen, in denen "arbeitsscheue" Personen, Bettler oder Landstreicher unter Zwang festgehalten wurden. Ziel war die "Umerziehung" und Disziplinierung. Die Bedingungen in den Arbeitshäusern waren oft repressiv, und die Insassen wurden systematisch entmündigt.
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägte die aufkommende Eugenik die Diskussion über "asoziale" Gruppen. Diese wurden zunehmend als "erblich minderwertig" oder "degeneriert" angesehen. In der Weimarer Republik gewannen eugenische und bevölkerungspolitische Ansätze an Bedeutung, insbesondere durch die Verbreitung sozialdarwinistischer Theorien. Sie waren auch in Teilen der progressiven und sozialistischen Bewegung und Ärzt:innenschaft verbreitet.
Die Ausgrenzung und Diskriminierung von Sinti und Roma hat eine lange und europäische Geschichte. In Bayern wurde 1926 ein „Zigeunergesetz“ erlassen, das die Überwachung, Erfassung und Vertreibung dieser Bevölkerungsgruppe vorsah. Es diente später den Nationalsozialist:innen als Vorlage für ihre Maßnahmen.
Die sogenannten Fürsorgegesetze der Weimarer Republik ermöglichten es den Behörden, "gefährdete" oder als "minderwertig" stigmatisierte Personen zwangsweise in Einrichtungen unterzubringen. Diese gesetzlichen Regelungen förderten eine staatliche Kontrolle über sozial marginalisierte Gruppen. Die Nationalsozialist:innen bauten auf diesen bestehenden Strukturen und Diskursen auf und verschärften sie, indem sie sie in ein rassenideologisches und totalitäres System integrierten.
Nazis bauten auf bestehenden Ausgrenzungsstrukturen auf
Der Begriff "asozial" wurde unter den Nazis umfassend und willkürlich verwendet. Er umfasste nicht nur Bettler und Landstreicher, sondern auch Menschen, die nicht in das Ideal der "Volksgemeinschaft" passten, wie Prostituierte, Alkoholiker:innen, Arbeitslose, Obdachlose oder auch alleinerziehende Mütter.
Das Recht zur sogenannten Vorbeugungshaft wurde 1937 ausgedehnt, um "Asoziale" und "Kriminelle" in Konzentrationslager zu deportieren. Die Grundlage hierfür bildeten auch frühere Polizeigesetze der Weimarer Republik. Vorhandene Register und polizeiliche Überwachungsinstrumente, wie die Registrierung von "Landfahrern", wurden übernommen und zentralisiert.
Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (1933) war ein Kernstück der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik. Es wurde von der Eugenik-Bewegung der Weimarer Zeit vorbereitet. Viele als "asozial" klassifizierte und stigmatisierte Menschen wurden zwangssterilisiert, weil sie als "erblich minderwertig" galten. In einer von den Nazis als „Aktion Arbeitsscheu Reich“ titulierten Maßnahme wurden 1938 tausende als „arbeitsscheu“ stigmatisierte Menschen, darunter viele Obdachlose und Arbeitslose, in Konzentrationslager verschleppt. Grundlage dafür waren die Diskurse der Weimarer Zeit über "gesellschaftlich nutzlose Elemente".
Das bayerische „Zigeunergesetz“ und ähnliche Regelungen anderer Länder wurden in der NS-Zeit reichsweit übernommen und verschärft. Die Überwachung mündete in der Deportation und systematischen Ermordung von Sinti und Roma.
„Berufsverbrecher“ – wichtige Dekonstruktion des Begriffs
Die Ausstellung stellt wohl auch bei den Besucher:innen fortbestehende Bilder in Frage. Zum Beispiel den Umgang mit dem Begriff der „Berufsverbrecher“.
Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Zweck nur die wirtschaftlichen Notlagen, Armut und Hunger in den 1920er Jahren zu Zeiten der Hyperinflation oder der Weltwirtschaftskrise, doch auch in dem als „goldene zwanziger Jahre“ glorifizierten Zeitraum der fünf Jahre zwischen 1924 und 1929. Diese verfestigte und verbreitete Armut führte häufig zu Notlagehandlungen wie Diebstahl, Bettelei oder Prostitution, die kriminalisiert wurden.
Der im Nationalsozialismus verwendete Begriff der „Berufsverbrecher“ war keine präzise juristische Kategorie, sondern ein ideologisch aufgeladener Begriff, der sozial diskriminierende und strafrechtliche Elemente vereinte. Er diente dazu, bestimmte Bevölkerungsgruppen systematisch zu stigmatisieren und repressiv zu behandeln, unabhängig von den Hintergründen ihrer vermeintlichen "Kriminalität". Insbesondere traf dies Menschen, die aus Armut, sozialen Notlagen oder wegen ihres Lebensstils aus der Norm fielen. An dieser Stelle setzt der eingangs verwendete Begriff der „sozialrassistischen Verfolgung“ an.
Bereits bestehende Bezeichnungen und Überzeugungen erwiesen sich ebenfalls als anschlussfähig. So wurden bereits in den 1920er-Jahren Menschen mit mehrfachen Vorstrafen als „gewohnheitsmäßige Verbrecher“ oder „Berufsverbrecher“ bezeichnet. Diese Begrifflichkeiten wurden genutzt, um Personen unter polizeiliche Überwachung zu stellen oder sie präventiv festzuhalten. In der Praxis fiel darunter ein breites Spektrum an Straftaten, von Diebstahl und Betrug bis hin zu Landstreicherei, Prostitution oder auch homosexuellen Handlungen. Das Ziel war die „Säuberung“ der Gesellschaft von Personen, die als „gefährlich“ oder „sozial unwert“ angesehen wurden.
Besonders stark betroffen war erneut die Gruppe der Sinti und Roma, die oft pauschal als „kriminell“ oder „arbeitsscheu“ abgestempelt wurden. Bereits bestehende Vorurteile wurden genutzt, um diese Gruppe systematisch zu stigmatisieren und später in Konzentrationslager zu deportieren.
Homosexuelle Männer wurden ebenfalls häufig kriminalisiert, da homosexuelle Handlungen unter Paragraph 175 des Strafgesetzbuches fielen. Diese Männer wurden oft als „gefährlich“ eingestuft und in die Kategorie der „Berufsverbrecher“ eingeordnet.
Aufarbeitung dauert an
In der Nachkriegszeit wurden bestehende Gesetze und Verwaltungspraktiken vielfach nicht hinterfragt, sondern fortgeführt. Arbeitshäuser und Fürsorgeanstalten blieben bestehen, und die Betroffenen erhielten erst spät eine rechtliche und gesellschaftliche Rehabilitation. Für Sinti und Roma dauerte es bis 1982, bis die Verfolgung in der Bundesrepublik als Völkermord anerkannt wurde.
Das 135-seitige Begleitheft zur Ausstellung ist kostenlos erhältlich. Ganz am Ende sind auf vier Seiten bedeutsame Jahreszahlen vermerkt:
Zwischen den Jahren 1945 und 1949 wird ein großer Teil der Täter:innen nicht belangt, auch in späteren Verfahren nicht, da das Handeln von Kriminalpolizei und Fürsorge kein NS-Unrecht dargestellt habe. Die Ausschüsse für die Opfer des Faschismus erkennen viele als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ stigmatisierte Verfolgte als NS-Opfer an, doch wird ihnen der Status zumeist später wieder aberkannt. Denn weder in der DDR, noch in der Bundesrepublik oder in Österreich werden die Betreffenden als Opfer anerkannt.
Stattdessen wurden in der Bundesrepublik die Regelungen zur Sicherungsverwahrung aus dem nationalsozialistischen „Gewohnheitsverbrechergesetz“ in das Strafgesetzbuch übernommen.
[Wie kurz das historische Gedächtnis ist, zeigte der Thüringer Innenminister und SPD-Landesvorsitzende Georg Maier, der sich angesichts des tragischen Unglücks in Aschaffenburg dafür aussprach, im Polizeirecht die neue Kategorie eines psychisch auffälligen Gefährders einzuführen. Die Betroffenen kategorisierte der SPD-Politiker als „wandelnde Zeitbomben“. Als Gefährder gelten Personen, denen die Sicherheitsbehörden jederzeit schwerste, vor allem politisch motivierte Straftaten zutrauen. In ähnlicher Weise sollen nach Vorstellung Maiers künftig auch psychisch auffällige und zugleich straffällig gewordene Personen überwacht werden. Maier forderte, dass es in solchen Fällen eine Meldekette über die behandelnden Ärzte zu den Gesundheits- und Sicherheitsbehörden geben muss. Dies sei seiner Ansicht nach auf der Grundlage bestehender Gesetze möglich, eine Gesetzesänderung sei somit nicht erforderlich. „Die Menschen erwarten, dass der Rechtsstaat funktioniert“, betonte er, laut „Thüringer Allgemeine“.
Eine Anpassung des Gesetzes über psychisch Kranke (PsychKG) mit dem Ziel des Schutzes von Angehörigen oder anderen Personen einschließlich der Betroffenen vor Fremd- und Selbstgefährdung sollte erörtert werden. Im Ergebnis sollte dies zu einer verbindlichen Kommunikation zwischen Ärzt:innen, Ämtern und Polizei führen. Dazu gehört wiederum auch die Sensibilisierung der Polizei zum Umgang mit gewalttätigen psychisch Erkrankten, um den tödlichen Einsatz von Schusswaffen zu vermeiden. Die undifferenzierte Stigmatisierung psychisch Erkrankter als "wandelnde Zeitbomben" ist das Gegenteil einer vernünftigen Debatte. Sie befördert Ressentiments, schürt Ängste und hilft weder den Betroffenen noch potenziellen Opfern.]
Knapp 25 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus werden 1969 in der Bundesrepublik die Arbeitshäuser abgeschafft. Menschen können nun nicht mehr wegen vermeintlicher „Arbeitsscheue“ ihrer Freiheit beraubt und zu Arbeitszwang genötigt werden. In Österreich dauert dies noch fünf Jahre. In der DDR hingegen wird 1968 der Straftatbestand der „Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“ in § 249 des Strafgesetzbuches eingeführt, der auch zur Verfolgung von politischen Gegner:innen dient. Erst 1979, zehn Jahre nach deren Abschaffung in der Bundesrepublik, werden die Arbeitshäuser in der DDR abgeschafft.
Erst 1988 wird in der Bundesrepublik die rechtliche Gelegenheit geschaffen, dass NS-Verfolgte, die keine Entschädigungsansprüche haben, im Einzelfall Geld erhalten können, wenn sie entsprechende Nachweise erbringen, was viele der noch wenigen Überlebenden nicht können.
Sechzig Jahre nach Kriegsende, im Jahre 2005 werden in Österreich Entschädigungen für als „asozial“ Verfolgte möglich. Im 75. Jahr der Befreiung vom Nationalsozialismus, 2020, erkennt der Deutsche Bundestag die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgten Menschen als Opfer an. Im vergangenen Jahr, kurz vor dem 80. Jahrestag der Befreiung, beschließt auch der österreichische Nationalrat, dass im Nationalsozialismus Verfolgte mit Vorstrafen nicht mehr von der Entschädigung ausgeschlossen werden dürfen.
Die Ausstellung „Die Verleugneten – Opfer des Nationalsozialismus“ ist angesichts dessen aber auch der Renaissance gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Ausgrenzungsdiskursen wichtig. Ihr sind viele Besucher:innen auf den Stationen der künftigen Wanderausstellung zu wünschen.
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„Die Verleugneten. Opfer des Nationalsozialismus 1933 – 1945 – heute“ ist noch bis 31. Januar 2025 im B. Place, Cora-Berliner-Straße 2, 10117 Berlin zu sehen. Die Ausstellung ist von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei.
Ab März 2025 ist die Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg zu sehen. Anschließend in Köln, Leipzig und Osthofen. Weitere Stationen sind in Planung.
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Weiterführende Literatur:
ALY, GÖTZ: Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt am Main 2013. Aly zeigt die ideologischen und administrativen Wurzeln der NS-„Euthanasie“ und ihre Verbindung zu eugenischen Praktiken der Weimarer Zeit.
AYAß, WOLFGANG: „Asoziale“ im Nationalsozialismus (1995). Ayaß untersuchte die Verfolgung sogenannter "Asozialer" und "Berufsverbrecher" und stellte fest, dass diese Kategorien unscharf waren und häufig Personen betrafen, die nicht den normativen Vorstellungen der NS-Gesellschaft entsprachen.
EBERLE, ANNETTE: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Dachau als Ort der „Vorbeugehaft“ in: Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hrsg.), Das Konzentrationslager Dachau. Geschichte und Wirkung nationalsozialistischer Repression (2008). Eberle beleuchtete die Praxis der Vorbeugehaft im KZ Dachau und zeigte, wie der Begriff "Berufsverbrecher" zur Internierung sozial unerwünschter Personen diente.
OLIVER GAIDA/ALYN ŠIŠIĆ: Im Zugriff von Fürsorge und Polizei. Erfahrungen sozialrassistischer Verfolgung im Nationalsozialismus, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Heft 5 (2024). Im Heft werden Fürsorge und Zwangserziehungssysteme im Netzwerk nationalsozialistischer Verfolgungsinstanzen – auch über die Grenzen des Reichsgebietes hinaus – in den Blick genommen und die transgenerationalen Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Gegenwehr thematisiert.
HÖRATH, JULIA: „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938 (2017). Hörath analysierte die Verfolgung dieser Gruppen und zeigte, dass die Kategorisierung als "Berufsverbrecher" oft auf sozialen Vorurteilen basierte und Menschen traf, die aufgrund von Armut oder sozialer Not straffällig wurden.
NONNENMACHER, FRANK: Die Nazis nannten sie „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“. Verfolgungsgeschichten im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik (2024). Das von Frank Nonnenmacher herausgegebene Buch, dessen Onkel Ernst Nonnenmacher die KZ Flossenbürg und Sachsenhausen sowie den Todesmarsch 1945 durch die Befreiung überlebte, schildert die Verfolgung von als „asozial“ und „Berufsverbrecher“ Stigmatisierten nach 1933 und fragt nach den Ursachen und Hintergründen, warum sie nach 1945 in der Bundesrepublik jahrzehntelang von moralischer und rechtlich-materieller Entschädigung ausgeschlossen wurden.
RATH, MARTIN: Kontinuitäten im Recht: Vom "Zigeunergesetz" bis zur Landfahrerordnung. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 1998. Rath untersucht die Fortführung diskriminierender Regelungen gegenüber Sinti und Roma vor und nach 1945.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.