Kunsthalle Mannheim: „Die Neue Sachlichkeit – ein Jahrhundertjubiläum“
- Benjamin-Immanuel Hoff
Vor 100 Jahren, vom Juni bis September 1925, fand in der Kunsthalle Mannheim eine Ausstellung statt, deren Titel ‚Neue Sachlichkeit‘, geprägt von Direktor Gustav F. Hartlaub, zum Inbegriff einer künstlerischen Epoche avancierte.
Ob Literatur, Fotografien, Gemälde, Grafiken oder Plastiken – die Werke unterschiedlichster Künstler:innen mit voneinander sehr verschiedenen Arbeitsweisen und Selbstverständnissen, die sich keinem einheitlichen Stilwollen verschrieben, werden unter dem Begriff ‚Neue Sachlichkeit‘ zusammengefasst. Wolfgang Schmied ist zuzustimmen, wenn er als prägendes Merkmal weniger einen neuen Stil als vielmehr eine veränderte Sehweise ausmacht.
Die Künstler:innen der Neuen Sachlichkeit verfolgten keine einheitliche ästhetische Agenda. Die Bandbreite der Malerei erstreckte sich von sozialkritischen, oft karikaturhaften ‚Veristischen‘ Richtung (z. B. George Grosz, Otto Dix) bis zur stillen, beinahe metaphysischen Strömung der "Klassischen Sachlichkeit" (z. B. Christian Schad, Georg Schrimpf). In der Literatur repräsentierten Mascha Kaléko, Erich Kästner, Alfred Döblin oder Egon Erwin Kisch ein vergleichbar weites Spektrum.
So uneinheitlich die ästhetisch-künstlerische Agenda, so verschieden, ja gegensätzlich waren die jeweiligen gesellschaftspolitischen Haltungen der Künstler:innen. Werke, die die sozialen Verhältnisse der Weimarer Republik anklagend oder aufklärend thematisieren, stehen neben Kunst, die sich distanziert und sachlich auf das Alltagsleben konzentrierte, ohne explizite politische Aussagen zu treffen. Andere Arbeiten wirken fast zeitlos entrückt und werden gleichwohl unter die Neue Sachlichkeit subsumiert.
Angesichts dessen hätte es sich die Kunsthalle Mannheim einfach machen und zum Jubiläum eine Wiederauflage der inzwischen legendären Ausstellung am historischen Ort durchführen können. Dieser Versuchung haben die Kuratorin Dr. Inge Herold und ihr Team widerstanden. Anzunehmen ist, dass diese Option auch nie ernsthaft zur Debatte stand. Zu sehen ist stattdessen eine Ausstellung, die den Fokus ebenso weit wie scharf stellt.
Die langen zwanziger Jahre der Weimarer Republik führten ein extremes und widersprüchliches Leben. Geboren in der Endphase des Ersten Weltkriegs und den revolutionären Umbrüchen, die zum Sturz der Monarchie und der Gründung der ersten parlamentarischen Demokratie führten, wurden sie mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten endgültig beerdigt.
Verglichen mit den heutigen Wahlperioden von vier bis fünf Jahren wird deutlich, wie kurz die Abstände zwischen den je für sich genommen existenziellen Ereignissen jener Zeit waren: Novemberrevolution 1918, Spartakusaufstand und Terror der Freikorps, Frauenwahlrecht, Annahme des Versailler Vertrags sowie der Weimarer Reichsverfassung 1919. Abwehr des Kapp-Lüttwitz-Putsches und Niederschlagung der Roten Ruhrarmee 1920. Kommunistischer Putsch in Mitteldeutschland im März 1921 sowie rechtsextreme Fememorde an Matthias Erzberger (1921) und Walther Rathenau (1922). Am 11. Januar 1923 besetzen französische und belgische Truppen im Konflikt um die deutschen Reparationsleistungen das Ruhrgebiet. Dies verschärfte die ohnehin bestehende wirtschaftliche Notlage und mündete schließlich in die Hyperinflation. Diese führte zum extremen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Weit mehr als die Hälfte der Arbeiter:innen war zeitweise arbeitslos oder in Kurzarbeit. Millionen Proletarier:innen sanken in extreme Armut, die Ersparnisse und das Geldvermögen der Mittelschicht wurden entwertet, während die Immobilien und Grundstücke besitzende Klasse von der Tilgungslast für Kredite befreit wurde. Eine Konsolidierung trat erst mit der Einführung der sogenannten Rentenmark 1924 und der Umsetzung des Dawes-Plan ein.
Diese Phase ab 1924 bis 1929 wird gemeinhin mit den „goldenen zwanziger Jahren“ assoziiert. Nach nur 5 Jahren nahmen die Goldenen Zwanziger allerdings ein jähes Ende. Sie wurden schon bald von den Folgen der Weltwirtschaftskrise überschattet, in deren Folge sich die ökonomische Lage für weite Teile der Bevölkerung erneut existentiell zuspitzte und die politischen Verhältnisse bis zur Machtergreifung am 30. Januar 1933 radikalisierten.
Die Künstler:innen der Neuen Sachlichkeit waren von diesen Erfahrungen und Entwicklungen ebenso geprägt wie von den sich parallel oder auch im Ergebnis davon vollziehenden enormen Veränderungen in Technik, Massenkommunikation in Form des Radios aber auch dem kulturellen Leben und der neuen Rolle der Frau.
Der Mannheimer Jubiläumsausstellung gelingt es, dieser Komplexität Rechnung zu tragen, ohne zu überfrachten. Max Beckmanns „Christus und die Sünderin“, „Grauer Tag“ von George Grosz, Heinrich Maria Davringhausens Werk über den Femizid verübenden Triebtäter „Der Träumer II“ oder auch „Die Internationale“ von Otto Griebel, ausgestellt in der von Ingrid Griebel-Zietlow angefertigten Kopie verweisen, hier nur beispielhaft genannt, auf die gesellschaftspolitischen Kontroversen dieser Zeit.
Mit Max Radlers „Der Radiohörer“ verweisen die Ausstellungsmacher:innen im exzellent gestalteten Audioguide zur Ausstellung, der online abrufbar ist, auf den enormen Aufschwung des Radios als Kommunikationsinstrument, Medium sowohl der Aufklärung als auch der Massenpropaganda. Parallel dazu erhalten mit der „HörBar 20er Jahre“, kuratiert von Heiko Daniels, interessierte Zuhörer:innen die Gelegenheit, bei sieben historischen Hörstücken aus den Jahren 1924, 1929 und 1930 „nach den vielen Eindrücken der Ausstellung“, die Augen zu schließen und „in die sternklare Nacht der eigenen inneren Vorstellungswelten“ zu lauschen, wie poetisch-einladend formuliert wird.
In der 1925er Ausstellung waren weder Frauen vertreten, noch internationale Künstler:innen. Schon dieses Manko sprach aus Sicht der Kunsthalle Mannheim gegen ein einfaches Revival der damaligen Ausstellung, von deren damals 132 Werken inzwischen 112 anhand von Beschreibungen und Photos rekonstruiert werden konnten, einige Werke aber nur dem Namen nach bekannt sind. Wie die Ausstellung konkret aussah, in welcher Hängung die Werke angeordnet waren, ist nicht bekannt.
Die Ausstellung wirft einen Blick über die deutsche Kunstszene hinaus nach Westeuropa (Frankreich, Österreich, Niederlande, Großbritannien) sowie in die USA und lässt u.a. mit Edward Hopper auch nicht aus Deutschland stammende Künstler:innen vertreten sein. Unklar bleibt, warum dieser internationale Blick ausschließlich nach Westen und nicht auch in östliche Länder wie die damalige Tschechoslowakei oder Polen gerichtet wurde.
Dass Hartlaub kein einziges Werk einer Künstlerin in der 1925er Ausstellung zeigte, erklärt die Ausstellung nicht allein mit dem vorherrschenden patriarchalen Blick auf Kunst und Künstler:innen, sondern auch mit dem Umstand, dass das Œuvre vieler Künstlerinnen sich erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre herausbildete und deshalb 1925 noch nicht berücksichtigt werden konnte.
Nach 1918 drängten Frauen in akademische Berufe und auch in die ihnen bis dahin im Regelfall verschlossenen Kunstakademien vor. Sie „ließen sich nicht länger auf Kunstgewerbe- oder Künstlerinnenschulen abschieben, wo sie ihre geschlechtsspezifische, ‚artgemäße‘ Ausbildung verpasst bekamen, also nur zur Zeichen-, Handarbeits- und Hauswirtschaftslehrerin gut waren“. (Dech 1984: 201)
Es sollte noch Jahrzehnte dauern, wie die Ausstellungsmacher:innen festhalten, bis die Vertreterinnen der Neuen Sachlichkeit die ihnen zustehende Aufmerksamkeit und Würdigung erhielten. Umso mehr legt die Jubiläumsausstellung den Fokus auf Künstlerinnen der Neuen Sachlichkeit, ebenso auf die Abbildung der neuen Geschlechterverhältnisse.
Wünschenswert wäre, wenn Werke von Anita Rée, Ottilie Roederstein, Erika Streit, Edith Dettmann und anderen Künstlerinnen dieser Epoche nach der Jubiläumsausstellung nicht wieder im Depot verstaut würden, sondern sie als Pionierinnen ihrer Zeit weiterhin präsent blieben. Gerade in regressiven Zeiten wie den heutigen.
Präsentiert wird in der Ausstellung u.a. das „Bildnis von Robert von Mendelssohn“, gemalt 1928 von Ilona Singer. In den Jahren 1923-25 studierte sie an der Berliner Staatlichen Hochschule für Bildende Künste, die 1924 mit der Staatlichen Kunstschule zur Vereinigten Staatsschule für freie und angewandte Kunst zusammengeführt wurde. Eine der Vorläufereinrichtungen der heutigen Berliner Universität der Künste. Ilona Singer wurde am 15. Mai 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Ihr Ehemann und fast ihre gesamte Familie fielen dem Holocaust zum Opfer. Nur wenige Werke von ihr sind erhalten, die meisten befinden sich im Jüdischen Museum in Prag. Das „Bildnis von Robert von Mendelssohn“ tauchte erst 2008 auf dem Kunstmarkt auf, wie man in der Ausstellung lernt.
Die Vorstellung, die Neue Sachlichkeit habe sich durch eine überwiegend sozialkritische künstlerische Perspektive ausgezeichnet, kontrastriert die Jubiläumsausstellung an vielen Stellen. Eindrücklich durch die parallel zu einander gehängten Werke „Märzbild“ von Curt Querner, eine einfühlende Darstellung der armen Landbevölkerung des Vorerzgebirges und Adolf Wissels „Kalenberger Bauernfamilie“ (1939), das eine bäuerliche Familie, traditionsorientiert in idealisierter Form darstellt. Wissels Anpassung an die nationalsozialistische Kunstpolitik brachte ihm Anerkennung ein; 1939 erhielt er von Hitler eine Ehrenprofessur.
Wie sich das Zeitalter der Extreme (Hobsbawm) in einzelnen Personen verdichtet, kann an Rudolf Schlichter exemplifiziert werden, von dem u.a. drei Werke nebeneinander aufgereiht sind: „Bildnis Egon Erwin Kisch“ (1927), „Speedy mit Katze“ (ca. 1929), „Porträt Carola Neher“. Der tschechische Journalist und „rasende Reporter“ Egon Erwin Kisch, John Sinclair und John Reed erzielten mit ihren sozialkritischen und politisch engagierten Reportagen große Reichweiten. Schlichter gehörte zum Zeitpunkt der Entstehung des Kisch-Porträts ebenso wie der Porträtierte der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD) an, distanzierte sich jedoch Ende der 1920er Jahre von der Berliner Avantgarde. Er wandte sich später unter dem Einfluss seiner Frau Elfriede Elisabeth, geborene Koehler und abgebildete „Speedy“, wie ihr gebräuchlicher Name lautete, erst dem Katholizismus und später dem Kreis um Ernst Jünger zu. Als antiliberaler Antisemit vollzog er den vollständigen Bruch mit seinen ursprünglichen Auffassungen. Auch nach dem Krieg hielt er an seinen antisemitischen Überzeugungen fest. Wie die seinerzeitige Ausstellung „Die Liste der ‚Gottbegnadeten‘. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik“ im Deutschen Historischen Museum herausarbeitete, publizierte Schlichter 1949 beim Rowohlt-Verlag die Hetzschrift „Das Abenteuer der Kunst“, in dem Schlichter die Entstehung abstrakter Kunst, namentlich des Konstruktivismus und Suprematismus in ungetrübter NS-Sprache mit der „angeborene[n] Neigung des Slawen und Ostjuden zu kompromisslosem Radikalismus, dem die Begriffe der Kontinuität, des Maßes und des Ausgleiches, jener Grundpfeiler des abendländischen Denkens fremd blieben“ erklärt.
In einer beeindruckenden und berührenden Multimediapräsentation im historischen Flügel der Mannheimer Kunsthalle wird an die dem nationalsozialistischen Furor gegen die von ihnen als „entartete Kunst“ verfemten und zerstörten Werke erinnert, denen auch in der 1925er Ausstellung gezeigte Bildnisse zum Opfer fielen. Darüber hinaus lässt die liebevolle Präsentation einige der Kunstwerke in bezaubernder Weise lebendig werden. Da neigt der von George Grosz 1925 porträtierte Schriftsteller Max Herrmann-Neisse den Kopf und der Harry-Potter-belesene Zuschauer möchte meinen, dass Herrmann-Neisse gleich das Porträt verlässt, um an anderem Ort in anderem Rahmen wieder aufzutauchen. Oder durch Georg Scholz‘ „Landschaft bei Berghausen“ dampft auf einmal eine Lokomotive. Wunderbare Details einer exzellenten Ausstellung.
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Der im Deutschen Kunstverlag erschienene Katalog zur Jubiläumsausstellung umfasst 408 Seiten und 350 Abbildungen. Er enthält Beiträge von Jelle Bouwhuis, James A. van Dyke, Inge Herold, Henning Lobin, Olaf Peters, Gunnar Saecker, Sebastian Schneider, Harald Stockert / Anja Gillen, Claude W. Sui sowie Christoph Vögele und ist zumindest gegenwärtig vergriffen. Eine Neuauflage ist angekündigt.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.