Bitte Hand anlegen. Anke Heelemanns „kopierschutz, sorry!“ in der Kunsthalle Erfurt.
Wohl jede Museumsbesucher:in ist schon einmal zusammengezuckt, als ein akustisches Signal ertönte und anzeigte, dass jemand einem Kunstwerk zu nah gekommen war. Kordeln oder Bodenmarkierungen markieren den Mindestabstand zwischen den Exponaten und ihren Betrachter:innen. Diese Aura der Unantastbarkeit beruht vor allem auf dem notwendigen konservatorischen Schutz der Werke.
Zugleich hebt der institutionelle Rahmen eines Museums Kunstwerke in einen Bereich, der Distanz und Respekt voraussetzt. Die Distanz soll Betrachter:innen dazu anregen, Kunstwerke vor allem visuell und intellektuell zu erfassen, statt sie körperlich zu erfahren.
Den radikalen Gegensatz dazu bildet die Kunst im öffentlichen Raum. Sie ist meist nicht durch institutionelle Regeln geschützt. Menschen begegnen ihr zwangloser, was zu einem direkteren Umgang führt. So glänzen beispielsweise die Vorderbeine des Esels aus der Bronzeplastik der Stadtmusikanten in der Bremer Innenstadt besonders. Der Volksglaube besagt, dass das Berühren der Vorderbeine des Esels Wünsche erfüllt. Selbiges gilt für die Statue der Julia im Innenhof des „Casa di Giulietta“ in Verona, bei der das Berühren ihrer rechten Brust Glück in der Liebe bringen soll.
Anders als Kunstwerke in Galerien oder Museen sind Skulpturen und Denkmäler häufig so im öffentlichen Raum platziert, dass sie mit der Umgebung verschmelzen und Berührung, Besteigen oder sogar Verschleiß Teil ihrer Existenz werden. Es entsteht durch Berührung, Graffiti oder Patina oft eine Art kollektive Aneignung.
Dabei kann sie den ursprünglichen Kontext oder die Intention eines Kunstwerks verändern – manchmal sogar ins Gegenteil verkehren. Insbesondere künstlerische Aneignung, auch bekannt als Appropriation Art, kopiert, deutet um oder kontextualisiert bestehende Werke oder kulturelle Artefakte neu. Eindrückliches Beispiel ist die Umgestaltung des Denkmals der Sowjetarmee im Zentrum von Bulgariens Hauptstadt Sofia durch anonyme Künstler:innen im Sommer 2011. Die Statuen der sowjetischen Soldaten wurden in Superhelden und Popkultur-Ikonen verwandelt, versehen mit dem kyrillischen Schriftzug „mit der Zeit gehen“. In den folgenden Jahren wurde das Denkmal wiederholt Ziel künstlerischer Interventionen, die oft politische Botschaften transportierten. Die Soldaten trugen beispielweise Anonymous-Masken, Sturmhauben der vom Putin-Regime verfolgten Frauenband Pussy Riot oder die Ukrainische Flagge nach der völkerrechtswidrigen Annektion der Krim durch russische Truppen.
Einen eigenen Weg gehen die Taktile Kunst, die - speziell für Blinde oder Sehbehinderte konzipiert - sich auf die Berührung als Sinneserfahrung konzentriert, während partizipative Kunst ein breiteres Spektrum an Interaktionen umfasst, bei denen die Berührung nur ein möglicher Bestandteil ist. Beide Ansätze tragen dazu bei, Kunst auf neue, einbindende und inklusive Weise zu erleben.
Die Idee, dass Kunst nicht nur ein statisches Produkt sei, sondern vielmehr ein Prozess und Kommunikation, ist inzwischen weit verbreitet. Konzepte wie die Relationale Ästhetik betonen, dass und wie Kunstwerke soziale Interaktionen und Beziehungen fördern können, wodurch das Publikum aktiv in den kreativen Prozess eingebunden wird.
In der Ausgabe 26 des hochschuleigenen Journals der Berliner Universität der Künste (UdK) erzählen die Studierende Luise Sandberger und die Meisterschülerin Sherry Wang, beide in der Bildhauerklasse von Karsten Konrad, von ihren sehr unterschiedlichen Begegnungen mit dem Publikum beim letztjährigen Rundgang der Universität. Hierbei handelt es sich um die dreitägige öffentliche Präsentation von Arbeiten der Studierenden. Ein Konzept, das an vielen Kunsthochschulen üblich ist und allein an der UdK im vergangenen Jahr 40.000 Besucher:innen anzog.
Eindrücklich beschreibt Luise Sandberger in ihrem Beitrag »Touch!« ihre „sehr schöne Erfahrung, zu beobachten, wie liebevoll und zärtlich die Menschen mit meiner Skulptur umgingen“ und welche Überlegungen dieser Erfahrung vorausgingen.
Sherry Wang kontrastiert diese positive Erfahrung Sandbergers in »Don’t touch« durch das auf mehreren Ebenen bittere Erlebnis der Zerstörung ihres Kunstwerks „Thirty-six Lemon Bonbons“. Hierbei umhüllte Wang verschrumpelte und bereits schimmelige Limetten mit einer dicken Zuckerschicht, die während der sommerlichen Ausstellung langsam schmolz. Das Werk zielte nach Wangs Worten darauf ab, die unsichtbare emotionale Arbeit der Frauen deutlich zu machen. Zerstört wurde die Arbeit durch einen Wachmann, dessen Aufgabe darin bestand, die Ausstellung und seine Werke zu schützen und im Ergebnis männlichen Dominanzverhaltens gegenüber der Künstlerin.
In der seit dem 1. Dezember 2024 und noch bis zum 9. Februar 2025 laufenden Ausstellung »Next Generation #2« in der Kunsthalle Erfurt lädt Anke Heelemann mit ihrer Installation »kopierschutz.sorry« zum Aneignen und Mitgestalten ein.
Anke Heelemann, Jahrgang 1979, wurde in Hoyerswerda geboren und lebt in Weimar. Sie studierte an der Weimarer Bauhaus-Universität, dem College of Fine Arts in Sydney und an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Seit bald 20 Jahren archiviert Anke Heelemann anonyme Privatfotografien im Langzeitprojekt FOTOTHEK. Ohne die Herkunft der Bilder zu kennen oder – falls bekannt – zu dokumentieren, ordnet sie die Bilder nach einem eigens entwickelten Verschlagwortungssystem. Dieses ist jedoch kein starres Konstrukt, sondern ein dynamisches, lebendiges System, das zugleich Ausgangspunkt und Inspirationsquelle für ihre künstlerische Arbeit bildet.
Ihr Langzeitprojekt FOTOTHEK ist ein spannendes Beispiel für eine Kunstpraxis, die sich intensiv mit Fragen der Aneignung, Zugänglichkeit und Interaktion beschäftigt. Es verbindet Aspekte der relationalen Ästhetik, Archivarbeit und Fragen des Urheberrechts mit einer reflexiven Praxis, die das Publikum direkt einbezieht.
Einer besonderen Art von Bildern widmet sich die Installation »kopierschutz.sorry!«, wie Anke Heelemann selbst ausführt. Auf Online-Verkaufsplattformen werden Privatfotografien jeglicher Art unter Schlagworten wie »echt alt« angeboten. Auffällig ist, wie kreativ die Anbieter:innen versuchen, ihre Bildware vor unerlaubter Verbreitung zu schützen. Sie erzeugen analoge »Wasserzeichen«, indem sie Streichhölzer, Stifte oder Gummis auf die Fotografien platzieren. Diese Interventionen verleihen den Bildern aus Heelemanns Sicht eine neue Erzählung und unerwartete grafische Qualität.
In der Installation sind Abzüge dieser, mit analogen »Wasserzeichen« aus Alltagsgegenständen, wie z.B. Fäden, Büroklammern oder Knöpfen ergänzten, Fotografien im Hoch- oder Querformat auf Kunststoff in drei Reihen zu je elf Bildern angeordnet.
Die ursprüngliche Reihung der Bilder, wie sie von der Künstlerin angeordnet wurde, ist inzwischen nicht mehr erkennbar – und spielt auch keine Rolle. Denn Heelemann möchte in der interaktiven Installation diese Bilder zum Leben erwecken. Besucher:innen der Ausstellung können sie in die Hand nehmen, auswählen, neu kombinieren und auch mitnehmen. Hierzu sind rechts der Hängung weiße Handschuhe befestigt und die Einladung ausgesprochen: BITTE HAND ANLEGEN.
Auf der linken Seite steht ein schwarzes Pult, ebenfalls mit Handschuhen und der Einladung, Hand anzulegen. Dort erhalten die Besucher:innen die Gelegenheit, auf einem Kopiergerät Abzüge der anonymen Fotografien zu erstellen und mit einem Prägestempel zu versehen, die sie dann verändern oder mit nach Hause nehmen dürfen.
Heelemann eröffnet damit jeder Besucher:in die Möglichkeit, ein Kunstwerk zu „besitzen“ und bricht dabei mit traditionellen Vorstellungen von Exklusivität und künstlerischer Autorität. Die Kunst ist nicht länger ein bloßes Objekt der Betrachtung, sondern wird durch die aktive Teilnahme des Publikums vervollständigt.
Das Archivieren anonymer Privatfotografien betont die Alltäglichkeit und Universalität von Bildern. Indem sie diese „unsichtbaren“ oder „vergessenen“ Fotografien in den Kunstdiskurs integriert, wertet Heelemann diese Art von Material auf und macht Kunst für ein breiteres Publikum zugänglich. Assoziationen zu Hans-Peter Feldmanns Arbeit mit Alltagsfotografien und Christian Boltanskis »Archives de C.B.« sind naheliegend.
Zugleich greift Anke Heelemann mit »kopierschutz, sorry!« Fragen des Urheberrechts und der Nutzung von Bildern auf. Sie thematisiert, wie rechtliche und institutionelle Strukturen den Zugang zu Kunst einschränken können. Indem sie diese Restriktionen spielerisch aufhebt, regt sie zu einer Diskussion über die gesellschaftliche Funktion von Kunst und Kultur an.
Was Heelemanns FOTOTHEK besonders macht, ist die Verbindung von archivarischer Praxis und interaktivem künstlerischem Konzept. Durch die Übertragung des Archivmaterials in unterschiedliche neue Kontexte möchte sie die Bilder „in der Gegenwart neu lesen“ und ihnen „unterwartete Gebrauchsweisen“ entlocken, wie sie selbst auf der Projektwebseite www.vergessene-fotos.de formuliert.
Indem sie anonyme Fotografien in den Fokus rückt, hinterfragt sie nicht nur, was als Kunst gilt, sondern auch, wem Kunst gehört und wie sie genutzt werden darf. Gleichzeitig schafft sie durch die Einladung zur Veränderung und Mitnahme eine unmittelbare Verbindung zwischen Kunstwerk und Publikum.
Informationen
Die Ausstellung »Next Generation #2« in der Erfurter Kunsthalle kann besucht werden von Dienstag bis Sonntag von 11 – 18 Uhr und Donnerstags von 11 – 22 Uhr. Am ersten Dienstag im Monat ist der Eintritt frei.
Ein weiteres Projekt der Künstlerin ist am Wochenende vom 14. bis zum 16. Februar 2025 im Berliner Humboldt-Forum zu besichtigen. In »neubelichtung. Ein Album mit Bitterfeld-Wolfen« machte sich Heelemann auf die Suche danach, „welches Bild private Fotografien vom Leben und den Umbrüchen in der ORWO-Stadt Bitterfeld-Wolfen zeichnen“. Das Projekt war Teil des Festivals OSTEN, das seit 2022 in der Region stattfindet.

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.