10.01.2025
Benjamin-Immanuel Hoff
Kultur

Sensible Innenwelten: Nora Kleins Blick auf Depression

Seit dem 1. Dezember 2024 und noch bis zum 9. Februar 2025 ist in der Kunsthalle Erfurt am historischen Fischmarkt, vis-à-vis dem Rathaus der Landeshauptstadt, die Ausstellung »Next Generation #2« zu sehen.

Präsentiert werden Werke von 25 Thüringer Künstler:innen, die alle zwischen Mitte Zwanzig und Ende Vierzig, gegenwärtig die hiesige Kunstszene maßgeblich prägen.

In ihren künstlerischen Ausdrucksformen sehr unterschiedlich, ob durch Photo- oder Videoinstallationen, Arbeiten mit Porzellan, Metall oder Aktionskunst und klassisch auf Leinwänden präsentiert sich hier in beeindruckender Weise eine künstlerische Nachwendegeneration.

Ein Projekt, dessen Entstehung bereits einige Jahre zurückliegt, dessen Wirkung aber weiterhin groß ist und deshalb unzweifelhaft in diese Werkschau aufzunehmen war, ist »Mal gut, mehr schlecht. Sensible Einsichten in die Innenwelten der Depression« der Photographin Nora Klein. Geboren 1984 in Rostock, studierte sie in Hannover und im dänischen Aarhus und lebt in Erfurt.

Nora Klein, die im vergangenen Jahr u.a. von der Zeit Stiftung Bucerius und der Stiftung Deutsche Bestattungskultur für ihr aktuelles Projekt »Wer bist du, Tod?« gefördert wurde, befasst sich in ihren Arbeiten mit gesellschaftlich wenig thematisierten, vermeintlich schweren Themen auseinander und möchte diese sichtbar machen. Ihr Stilmittel sind essayistische Langzeitstudien.

Ab 2013 befasste sie sich mit der psychischen Erkrankung Depression und photographierte - nach zumeist mehrere Stunden umfassenden Gesprächen - in Porträts, an Depression erkrankte Menschen und dokumentiert sensibel deren intimen Innenwelten. Sei es das Bett aus der eine Betroffene nicht die Kraft hatte aufzustehen, heruntergelassene Fensterrollos oder Tagebucheinträge und Collagen.

Etwa 15 Jahre zuvor entstand die sehr persönliche Installation »My Bed« der britischen Künstlerin Tracey Emin. Zu sehen ist ein unaufgeräumtes Bett auf blauem Teppich, der übersät ist von leeren Vodkaflaschen, Zigaretten, benutzten Taschentüchern aber auch Zeitung, Hausschuhe und Zahnputz-Utensilien.

Die künstlerische Auseinandersetzung mit existenziellen Themen wie Leid, Einsamkeit und psychischen Erkrankungen hat eine lange Geschichte. Die Depression, in der Literatur oft mit der Metapher der »dunklen Nacht der Seele« umschrieben, wurde in der Romantik (Caspar David Friedrich), durch Expressionist:innen (man denke an Edvard Munchs »Der Schrei“), in der Literatur beispielsweise durch Virginia Woolf oder Franz Kafka, im Theater durch Sarah Kane oder musikalisch durch Billie Eilish thematisiert.

Durch Kunst Sichtbarkeit für Themen wie Depression zu schaffen, ein öffentliches Gespräch zu befördern, indem nachvollziehbar vermittelt wird, was sich rational kaum beschreiben lässt, gibt Betroffenen eine Stimme. Diesem Ansinnen trägt das Langzeitprojekt von Nora Klein auch dadurch Rechnung, dass aus den Porträts beim renommierten Hatje Cantz Verlag im März 2017 der gleichnamige Bildband entstand. Das 136 Seiten starke und mit 64 Photographien versehene Buch von Nora Klein in Zusammenarbeit mit Sabine Fröhlich, zunächst als von Depression Betroffene eine der Teilnehmenden des Projekts, später Projektpartnerin und der Autorin Sonja Hartwig, die für das Buch die Texte verfasste, ist leider dauerhaft vergriffen. Psychotherapeut:innen nutzen, so wird berichtet, in Therapien das Buch, das ebenso aufwendig wie liebevoll zugewandt gestaltet ist. Auf den Porträts der Betroffenen, die sich sowohl erkennbar als auch anonymisiert ablichten ließen, sind Fächer angebracht. In ihnen befinden sich, für die Leser:innen herausnehmbar und erfahrbar, die Artefakte wie Tagebucheinträge etc.. Wohl auch dafür wurde der Bildband seinerzeit für die Shortlist »Die schönsten deutschen Bücher« nominiert.

Obwohl der Beginn dieses Langzeitprojekts bereits mehr als eine Dekade zurückliegt, fühlt sich Nora Klein dem Anliegen weiterhin verpflichtet und führt gemeinsam mit Sabine Fröhlich Veranstaltungen zu dem Projekt durch. Allein im vergangenen Jahr waren es acht Termine vom Schwarzwald bis zur Ostseeküste. Mehr über das Kunstprojekt »Mal gut, mehr schlecht« erfahren Interessierte auf der gleichnamigen Webseite oder auch zum Nachhören in dieser Folge des Podcasts »Fotografie neu denken«.

Die Ausstellung »Next Generation #2« in der Erfurter Kunsthalle kann besucht werden von Dienstag bis Sonntag von 11 – 18 Uhr und Donnerstags von 11 – 22 Uhr. Am ersten Dienstag im Monat ist der Eintritt frei.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.