10.11.2024
Parteien

Politiksprech und die Wiederholung des Bekannten

"Pragmatismus statt Ideologie" versprechen Mario Voigt (CDU), Katja Wolf (BSW) und Georg Maier (SPD) in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Die Drei versuchen derzeit gegen den Widerstand von Sahra Wagenknecht eine Koalition zu bilden, den sogenannten Brombeer-Bund. Im benachbarten Sachsen scheiterte dieser Versuch in dieser Woche durch den Rückzug des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Es zieht dort die Opposition der Gestaltungspolitik vor. CDU und SPD werden nun vermutlich eine Minderheitsregierung bilden müssen.

Thüringen hat Veränderung gewählt. Und für Thüringen schon fast obligatorisch, betrifft diese notwendige Veränderung nicht nur die Politik für den Freistaat, sondern sie bestimmt auch den Variantenreichtum möglicher Regierungskooperationen neu.

Über eine eigene Mehrheit würde der Thüringer Brombeer-Bund auch im Falle seines Zustandekommens nicht verfügen. Mit 44 von 88 Landtagsmandaten wäre diese Konstellation auf die Unterstützung der Linken oder der AfD im Landtag angewiesen. Mit beiden Parteien schließen die drei Brombeer-Parteien jedoch institutionelle Gespräche aus. Am 23. November trifft sich das Bündnis Sahra Wagenknecht zum Landesparteitag, um über die Frage zu entscheiden, ob auf Basis des bis dahin ausgehandelten Koalitionsvertrag - so zumindest lautet der Zeitplan bisher - in eine Koalition eingetreten werden soll oder nicht. Angesichts der erheblichen Unwägbarkeiten will die Redaktionsgemeinschaft Voigt, Wolf und Maier mit dem von einem vermutlich in der CDU-Fraktion beschäftigten Ghostwriter verfassten Text Gemeinsamkeiten ins Schaufenster stellen. Drei Ziele wollen die Drei benennen - doch wer sich Neues, gar Überraschendes erwartet hat, wird enttäuscht.

Das war bei dem bereits vor einigen Wochen publizierten FAZ-Gastbeitrag des Christdemokraten Mario Voigt mit dem Brandenburger Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) und dessen sächsischem Amtsbruder Michael Kretschmer (CDU) anders. Der damals veröffentlichte Text überraschte. Durch die drei Autoren und dem Inhalt, der sich den für Sahra Wagenknecht und deren leninistisch straff zentralistisch geführte Organisation BSW besonders wichtigen Themen widmete: mehr Diplomatie statt Waffenlieferungen an die sich gegen den russischen Angriffskrieg verteidigende Ukraine und kritische Bewertung der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen - die übrigens gemäß des Zwei-plus-Vier-Vertrags sowieso nicht in Ostdeutschland aufgestellt werden dürften.

In Verbindung mit den jeweiligen Antrittsbesuchen der drei Politiker bei der BSW-Gallionsfigur Wagenknecht wurde dieser Gastbeitrag allgemein als Kniefall interpretiert. Die Botschaft schien erfolgreich gesetzt, denn Wagenknecht goutierte die im Text enthaltenen Aussagen verhalten positiv: „Angesichts einer politischen Debatte, die sich seit zweieinhalb Jahren in Deutschland nur noch um die Frage dreht, welche Waffen als Nächstes an die Ukraine geliefert werden, ist der Artikel ein wichtiger Beitrag, weil er endlich eine andere Perspektive aufzeigt“ sagte sie der dpa.

Der nunmehr von Voigt gemeinsam mit der Thüringer BSW-Spitzenfrau Wolf und dem SPD-Vorsitzenden Maier publizierte Text dürfte Sahra Wagenknecht nur indirekt als Adressatin haben. Angesichts des in Sachsen zerschnittenen Tischtuchs soll die Botschaft vor allem lauten: Friede, Freude, Koalitionsverhandlungen in Thüringen. Wagenknecht dürfte darüber nicht amüsiert sein.

Neben dieser Botschaft will der Gastbeitrag zugleich ein Narrativ verankern: "Pragmatismus statt Ideologie". Die drei Parteivertreter:in behaupten, über einen gemeinsamen Gestaltungswillen für das Land zu verfügen und Veränderung gerade dort vornehmen zu wollen, "wo vielen Menschen der Glaube an die Handlungsfähigkeit von Politik verloren gegangen ist".

"Uns geht es um Pragmatismus in der Politik statt um ideologische Grabenkämpfe. Nicht die Parteiinteressen, sondern das Land steht im Mittelpunkt. [...] es braucht mehr als die Schnittmenge von Wahlprogrammen."

Wenn Politiker:innen „Veränderung“ verkünden, wecken sie Erwartungen. Doch wie so häufig verharrt der verkündete Wandel in altbekannten Phrasen und Formulierungen. Der Gastbeitrag zeigt exemplarisch, wie das rhetorische Versprechen einer Erneuerung auf klassisches Politiksprech zurückgreift und dabei die nötige Substanz vermissen lässt. Wie linguistische Studien nahelegen, schwindet jedoch gerade dadurch das Vertrauen der Bürger:innen in die politische Handlungsfähigkeit, wenn politische Sprache „Veränderung“ beschwört, jedoch strukturell unverbindlich bleibt (Klein, 2020).

"Thüringen ist wunderschön, reich gesegnet mit Natur und Kultur. Mit seiner ländlichen Prägung neben einzelnen urbanen Zentren steht es vor enormen Herausforderungen. Wir wollen eine Politik, die dafür Sorge trägt, dass man an jedem Ort in Thüringen gut leben und arbeiten kann."

Die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Wehling hebt hervor, dass politische Sprache oft bewusst unkonkret bleibt und dabei auf positiv konnotierte Schlagworte setzt (Wehling, 2016). Dim im Gastbeitrag verwendeten Begriffe wie „Pragmatismus statt Grabenkämpfe“ oder „Das Land im Mittelpunkt, nicht Parteiinteressen“ appellieren an Vertrautheit und sollen Zustimmung erzeugen. Doch ihre inhaltliche Bedeutung bleibt unscharf, die Verwendung ist beliebig. Sie wirkt im Gastbeitrag wie die Aneinanderreihung von Plattitüden aus dem Satzbaukasten des beliebigen Politiksprechs. Bewusst wird jede Kontur vermieden, soll fehlendes Profil jede Reibung oder Widerspruch vermeiden. Sprachwissenschaftler Jürgen Link beschreibt diese Art der „Wortfetische“ als leere Signifikanten, die politisches Handeln simulieren, ohne es einzulösen (Link, 1997). Das Versprechen, das Land über Parteiinteressen zu stellen, gehört zur Standardrhetorik.

"Eine ganzheitliche, vorausschauende Politik muss dabei wirkungsorientiert und ermöglichend sein. Politik muss gute und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen und nicht kleinteilige Förderungen für dieses und jenes, für jeden noch so denkbaren Anspruch entwickeln."

Bourdieu (1991) spricht in diesem Zusammenhang von „symbolischer Macht“: Politische Sprache kann die Realität oft nur insoweit verändern, wie sie bereit ist, die Machtstrukturen tatsächlich neu zu ordnen. Die Formulierungen, die im Gastbeitrag verwendet werden – „Ganzheitlich und ressortübergreifend“ oder „Land der Möglichkeiten“ – sind Beispiele dafür, wie das Versprechen von Innovation im sprachlichen Rahmen des Alten stecken bleibt.

"Eine erfolgreiche regionale Politik setzt nicht allein auf staatliche Mittel, sondern auf Innovation und Kooperation. Die Aufgabe der Landespolitik ist es, durch verlässliche Rahmenbedingungen Projekte flächendeckend überall im Land zu ermöglichen."

Die Wiederholung leerer Formeln verstärkt bei Wähler:innen das Gefühl, dass politische Sprache zum Selbstzweck wird – ein „Diskurs des Stillstands“, wie der Sprachforscher Andreas Klein es nennt. Dies ist eine bedeutende Herausforderung für die Demokratie, weil Sprache als Werkzeug der politischen Orientierung versagt, wenn sie das Konkrete zugunsten des Wohlklingenden vernachlässigt. Konkret werden Wolf, Voigt und Maier nur dort, wo ein Feindbild adressiert wird - der Staat. Georg Maier war mehr als eine Wahlperiode lang Minister für Inneres und Kommunales. Mit Vorschlägen zur Staatsmodernisierung, dem Abbau von unnötigen Regularien sowie Beschleunigung von Verfahren ist er bislang nicht aufgefallen. Diese Widersprüche jedoch fallen Menschen auf - und führen zu Verdruss.

Thüringen muss ein Land der Möglichkeiten werden, ein Land, in dem kreative Ideen und ihre Umsetzung – sei es wirtschaftlich, sei es im ehrenamtlichen Engagement – nicht durch einen langsamen und schwerfälligen Staat ausgebremst werden.

Am Ende dieses Rebrandings des Bewährten behaupten die Autorin und ihre beiden Co-Autoren: "Zugegeben, das sind große Aufgaben. Doch echte Veränderung braucht Mut und klare Ziele." Da haben sie Recht. Die Aufgaben vor denen jede nächste Koalition steht, sind groß. Doch den Mut und die klaren Ziele, die dafür nötig sind, sucht man im Text vergeblich.

Die versprochene Veränderung ist vielmehr bekannter Wein in alten Schläuchen. Das muss nicht schlecht sein. Immerhin leistete Rot-Rot-Grün zehn Jahre gute Vorarbeit. Und auf die Unterstützung der Linksfraktion im Landtag ist und bleibt das angestrebte Brombeer-Bündnis sowieso angewiesen.

 

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.