Don’t Stop Believin
Dieser Tage verlassen Menschen die Linkspartei, mit denen mich eine über Jahre, teilweise Jahrzehnte umfassende gemeinsame politische Praxis verbindet. Bei der Gewerkschaftssekretärin Elke Breitenbach trat ich 1995 in die Gewerkschaft HBV ein. Gemeinsam mit ihr, Klaus Lederer, Carsten Schatz, Udo Wolf und anderen war ich über viele Jahre im Forum demokratischer Sozialist:innen (fds), der reformsozialistischen Strömung der Linken, engagiert. Sie prägten mich.
Mit ihnen war und bin ich in einer sehr pluralen Linken aktiv, wie sie es in ihrer Austrittserklärung formulieren. Wie sie bin ich überzeugt, dass eine demokratische, progressive linke Partei eine überzeugende gesellschaftliche Zukunftsidee braucht. Doch die Linke hat sich lange davor gedrückt, notwendige Klärungsprozesse anzugehen, aus Sorge, die ohnehin bestehenden Spannungsverhältnisse zu verschärfen.
In ihrer Austrittserklärung fordern Elke Breitenbach und andere diese inhaltlichen und strategischen Klärungen ein, erklären jedoch gleichzeitig, dass sie daran nicht mehr teilnehmen werden. Der Grund: In für ihr politisches Selbstverständnis zentralen Fragen haben sich unvereinbare Positionen verfestigt, und die nötigen sachlichen Klärungen bleiben aus.
Diese Feststellung enthält jedoch einen unauflösbaren Widerspruch: In politisch zentralen Fragen können unvereinbare Positionen nicht sachlich-inhaltlich geklärt werden. Sie können nur festgestellt werden, um dann zu prüfen, ob jenseits dieser Unvereinbarkeiten noch ausreichende Gemeinsamkeiten für eine gemeinsame politische Praxis bestehen. In einer solchen Situation mag ein oft als Denkfaulheit kritisierter Formelkompromiss helfen, zumindest vermeintliche Gemeinsamkeiten zu schaffen. Diese Methode wird jedoch von den Austretenden als verbale Umschiffung der Differenzen kritisiert.
Der Widerspruch bleibt ungelöst. Das Problem liegt darin, dass in der derzeitigen Verfasstheit der Partei jede Entscheidung in kontroversen Fragen wie eine Zerreißprobe wirkt. So sicher wie das Singen der Internationale am Ende eines Bundesparteitages ist es, dass Genoss:innen bei jeder Entscheidung den Austritt aus der Partei erwägen. Dies ist das Ergebnis einer Konfliktkultur, die nach dem Muster „Auf zum letzten Gefecht“ funktioniert.
Doch die Partei kann nicht aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen. Deshalb müssen wir unser Verständnis einer pluralen Linken überdenken. Weder darf Pluralismus Synonym für Beliebigkeit sein, noch dürfen Lernerfahrungen ignoriert werden. Die Debatten in der politischen und gesellschaftlichen Linken folgen oft dem Muster: ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück – besonders in Zeiten des Wandels.
Derzeit wächst Die Linke und verliert zugleich. Auf dramatische Wahlniederlagen folgen beachtliche Mitgliederzuwächse. Diese Zuwächse verändern die Mitgliedschaft auf eine Weise, die oft unterschätzt wird, da dieser Wandel regional und lokal unterschiedlich ausfällt. Mehr als die Hälfte der Mitglieder des Jahres 2021 war erst seit 2011 beigetreten. Von diesen rund 30.000 Mitgliedern waren zwei Drittel im Alter zwischen 14 und 40 Jahren – ein Drittel der Gesamtmitgliedschaft. Dieser Wandel verändert bestehende Gewissheiten und auch politische Mehrheiten, wenn auch regional unterschiedlich.
Nachdem die zermürbenden Kämpfe mit den separatistischen Wagenknechten beendet schienen, erfüllte sich nicht die Hoffnung auf eine nun geeinte Partei. Vielmehr wurde deutlich, dass die Kontroversen mit Wagenknecht die tieferliegenden Spannungen nur verdeckt hatten, die seither umso deutlicher zutage traten und durch neuere Häutungsprozesse nicht vereinfacht werden.
Lange Zeit hatten sich die verschiedenen linken „Schulen“, „Strömungen“ und „Flügel“ in ihren ideologischen Ecken verbarrikadiert, enttäuscht über die Fehleinschätzung ihres gemeinsamen Potenzials. Nun verabschieden sich Genoss:innen, die über Jahre der Wagenknecht-Kontroverse in der Linkspartei tätig waren. Enttäuscht, individuell oder in kleinen Gruppen, aus Gründen, die meist eine Summe aus gesammelten Enttäuschungen und Erschöpfung sind.
Überzeugend ist dies nicht, wenn es darum geht, eine konföderierte Linke zu konstituieren. Die über so viel Mindestgemeinsamkeit entwickelt, nicht an kontradiktorischen Widersprüchen zu ersticken. Und über eine innere Haltung verfügt, nicht um einen Sieg im Wettstreit der Wahrheiten zu kämpfen, sondern Vielfalt, Pluralität, auch Widersprüchlichkeit, als Teil eines offenen gesellschaftlichen Lernprozesses zu verstehen. Die Krise und Schwäche würde hier zur Ausgangschance. Ohne auf Grundsätze zu verzichten. Wie dies gehen kann zeigte aus meiner Sicht der Bundesparteitag von Halle/Saale am vergangenen Wochenende.
„Warte nicht auf bessere Zeiten“, textete Wolf Biermann 1974, zwei Jahre vor seiner Ausbürgerung aus der DDR. Diese Zeile markierte eine (kultur)politische Zäsur und führte zu einer Welle der Solidarität sowie einem weiteren Weggang sozialistischer Intellektueller, die nicht länger auf bessere Zeiten warten wollten.
In einem taz-Kommentar über die Linkspartei wurde im Sommer dieses Jahres der Biermann-Song aufgegriffen: „Wartet nicht auf bessere Zeiten, wartet nicht auf euren Mut.“ Die Perspektive der Linkspartei könnte, sollte, müsste darin bestehen, immer noch oder wieder da zu sein, wenn sich der Wind wieder dreht. Nicht auf bessere Zeiten warten, sondern gleichzeitig das Wurzelwerk der Partei erweitern, vertiefen und wieder wachsen lassen.
Dieses Wurzelwerk ist für mich nach wie vor Die Linke. Eine Alternative wäre nur eine bedeutendere Organisation der gesellschaftlichen Linken – ein rot-grün-rotes Projekt in einer grundlegend neuformierten Parteienlandschaft. Das ist derzeit nicht in Sicht und wird wohl nur realistischer durch eine stärker werdende Linke. Dafür braucht es mehr Gemeinsamkeit, weniger Abschied.
Ich bin Sozialwissenschaftler und Vater. Knapp drei Jahrzehnte war ich tätig als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Chef der Staatskanzlei. Zuletzt erschien von mir im VSA-Verlag: "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird".
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog zu Gesellschaftspolitik, Kultur & Kunst, Parteien sowie jüdischem Leben.