Politische Bildung im Unterricht
"Politikunterricht darf kein Nischenfach sein" lautete die Quintessenz der im vergangenen Jahr verabschiedeten Stellungnahme der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft zur Politischen Bildung, die allen Bildungsministerien der Länder und den Staatskanzleien zugegangen war. Der Vorstand der DVPW führt dazu u.a. aus:
"In zahlreichen Bundesländern ist heute eine Aufwertung der ökonomischen Bildung zu beobachten, sei es in Form von Fächern mit einer Doppeldenomination Politik & Wirtschaft oder durch die Einführung eines eigenständigen Fachs Wirtschaft. So wichtig ökonomisches Wissen angehender Bürger*innen ist, so zentral ist es zugleich, dass ökonomische Zusammenhänge einer multiperspektivischen sozialwissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Hierfür bietet die politikwissenschaftliche Forschung relevante Zugänge und wertvolle Erkenntnisse. Eine Aufwertung der wirtschaftlichen Fächeranteile darf nicht zulasten der politischen Bildung an Schulen gehen. Im Gegenteil: Angesichts der aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die neue politische Antworten erfordern, ist eine Stärkung der schulischen wie außerschulischen politischen Bildung dringend geboten."
Bestätigung erfuhr die DVPW nun durch eine Untersuchung am Fachbereich Soziologie der Universität Bielefeld, die unter der mediengängigen Überschrift "Ranking Politische Bildung 2017" publiziert, den Anteil der Politischen Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I zwischen den Ländern einem Vergleich unterzogen hat. Die Autoren, Reinhold Hedtke und Mahir Gökbudak, führen aus, dass die Stundentafel strukturelle und quantitative Eckpunkte der Bildungs- und Schulpolitik eines Landes definiert indem die Stundentafelquote als empirischer Indikator den prozentualen Anteil politischer Bildung an den Gesamtwochenstunden der Stundentafel für eine Schulform zeige.
Die Autoren weisen zugleich bereits einleitend darauf hin, dass "jedes Ranking nicht nur eine radikale Reduzierung der diversen und komplexen Realitäten, die es miteinander vergleichen will, und eine Konzentration der Analyse auf sehr wenige Aspekte [verlangt]. Ein Ranking wird vielmehr überhaupt erst dadurch möglich, dass man die reale Vielfalt methodisch ordnet, kategorisiert und vergleichbar macht. Beides ist notwendigerweise mit methodischen Entscheidungen und mit Informationsverlust verbunden. Das gilt ganz besonders, wenn man sich auf einen quantitativen Indikator beschränkt."
Bei der Interpretation der Daten muss man deshalb, so die Autoren, berücksichtigen, "dass die Stundentafeln ausschließlich den zeitlichen Umfang des Leitfaches der politischen Bildung vorgeben. Die inhaltliche Grundstruktur beschreiben die Kernlehrpläne für das jeweilige Leitfach. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass es zwischen den formalen Vorgaben und deren Umsetzung deutliche Diskrepanzen gibt." Am Beispiel Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein - zwei Länder, die im Ranking vordere Plätze einnehmen und deshalb in der Studie als Länder mit einer "Anerkennungskultur" der politischen Bildung im Unterricht bezeichnet werden, wird nachgewiesen, dass
a) in NRW im engeren Sinne politische Inhalte im Lehrplan des Leitfachs der politischen Bildung an allen Schulformen einen vergleichsweise geringen Stellenwert haben (vgl. Studie: "17 Minuten Politik, 20 Sekunden Redezeit. Datem zum Politikunterricht in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen")
b) die schleswig-holsteinische Stundentafel eine Mindeststundenzahl nur für den gesamten Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und nur für das dort zugeordnete Fach Religion festlegt, während für das Leitfach der politischen Bildung, Weltkunde oder Wirtschaft/Politik die Stundentafel eine Pflicht für die Schulen, es überhaupt auf den Stundenplan zu setzen, nicht vorsieht.
Aus einem vergleichsweise guten Abschneiden eines Landes im bundesweiten Ranking Politische Bildung kann deshalb, darauf legen die Autoren Wert, nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die politische Bildung in diesem Bundesland relativ gut aufgestellt ist. Denn bei den formal-quantitativ vergleichsweise gut und sehr gut rangierenden Ländern kann es sein, dass die Realität in den Schulformen und Schulen deutlich bis dramatisch schlechter ist als es der prozentuale Anteil der Stundentafeln erwarten lässt. So müssen zum Beispiel Faktoren wie der fachspezifische Unterrichtsausfall oder der fachfremd vertretene Unterricht in die jeweilige Landesanalyse, für die entsprechende Untersuchungen in der Regel bislang nicht vorliegen, einbezogen werden. Andererseits kann kein Land, das im Ranking auf den hinteren Plätzen rangiert, auf Basis dieser Aussage die Schlussfolgerung ziehen, es sei "gut aufgestellt", denn der Anteil Politischer Bildung an der Stundentafel ist schon ein Indikator für den Stellenwert, den die Vermittlung politischer Bildung im betreffenden Bundesland an den Schulen einnimmt.
Im Lichte dieser Einschränkungen bilden die Autoren drei "bildungspolitische Kulturen der Verankerung politischer Bildung an den Schulen der Sekundarstufe I", deren wenig objekte Bezeichnung insbesondere angesichts der Vielzahl an Einschränkungen der angemessenen Analyse und Vermeidung politischer Instrumentalisierung bzw. medialen Kurzschlüsse im Wege stehen dürfte:
a) Kultur der Vernachlässigung: Zu dieser Gruppe zählen für den Durchschnitt der gesamten Sekundarstufe I die Länder Bayern, Thüringen und Berlin, für das Gymnasium die Länder Bayern, Thüringen und Rheinland-Pfalz und für die nicht-gymnasialen Schulformen die Länder Berlin und Bayern.
b) die Kultur der Mittelmäßigkeit ist dadurch geprägt, dass die politische Bildung im Ländervergleich weder gut noch schlecht ausgestattet ist. In diese Gruppe fallen die Länder Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und das Saarland. Beim Gymnasium die Länder Berlin, Sachsen, Sachsen-Anhalt, das Saarland, Baden-Württemberg, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern.
c) in der Anerkennungskultur finden sich deutlich überdurchschnittliche Stundentafelanteile der schulischen politische Bildung und die Länder Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Hessen sowie mit sehr deutlichem Abstand die Länder Bremen, Niedersachsen und Brandenburg.
Der Umstand, dass der Freistaat Thüringen zu den Ländern mit einer vermeintlichen Kultur der Vernachlässigung politischer Bildung an den Schulen gezählt wurde, hat in der Thüringer Öffentlichkeit selbstverständlich Nachhall gefunden. So berichtete MDR aktuell in einem Hörfunkbeitrag "Politische Bildung: muss Thüringen mehr tun?" (Audio) und ließ darin sowohl den Bildungsminister und amtierenden Präsidenten der Kultusministerkonferenz (KMK), Helmut Holter (DIE LINKE), und den Autor dieses Textes als für die Landeszentrale für politische Bildung zuständigen Staatskanzleichef zu Wort kommen.
Der Bildungsminister wies darauf hin, dass Demokratiebildung und die Vermittlung von Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge einerseits nicht auf ein einzelnes Unterrichtsfach reduziert werden dürfe, sondern Gegenstand unterschiedlichster Vermittlungsformen sei. Wenn es im Deutschunterricht um Freiheitsgedichte gehe oder in Geschichte um die Weimarer Republik, dann stünde natürlich auch immer das Thema Demokratie im Klassenraum, so Holter.
Darüber hinaus ginge es stets um das konkrete Erleben von Demokratie. Wie können sich Schülerinnen und Schüler einbringen? Was heißt den Demokratie konkret? Um Politik und die Vertretung von Interessen aktiv erfahren zu können und zu nutzen seien vielfältige Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Schulen zu schaffen und mit Leben zu erfüllen. Darüber hinaus seien Maßnahmen wie die Förderung der Fahrten zu Gedenkstätten wichtige Bestandteile außerunterrichtlicher politischer Bildung. Im Rahmen des Vorsitzes der Kultusministerkonferenz hat Helmut Holter jedoch bereits vor Erscheinen der Bielefelder Untersuchung die Demokratiebildung zum Jahresschwerpunkt gemacht, um die politische Bildung - ganz im Sinne der Studie aus Bielefeld aber auch der Stellungnahme der DVPW stärker ins Zentrum der bildungspolitischen Debatte zu rücken.
Mit dem Doppelhaushalt 2018/2019 verstärkten die rot-rot-grünen Koalitionäre in Thüringen die Landeszentrale für politische Bildung, die nunmehr 100.000 EUR zusätzlich erhält. Für die Begleitung der Kommunalwahlen in diesem und dem kommenden Jahr, bei denen erstmals Jugendliche ab 16 Jahren über das aktive und passive Wahlrecht verfügen, wurden zusätzlich 350.000 EUR als Mittel für eine eine Erst- und Jungwähler/-innenkampagne in den Haushalt der Landeszentrale eingestellt.
In einem Beitrag unter der Überschrift "Hoff spricht Eltern von Regelschülern Polit-Bildung ab", der sowohl in der Südthüringer Zeitung als auch dem ebenfalls in Südthüringen erscheinenden Freien Wort veröffentlicht wurde, kritisierte der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Landtag Thüringen den Autor dieses Beitrags dafür, dass er im bereits zitierten MDR-Beitrag darauf hingewiesen hatte, dass wenn in Thüringen der Politikunterricht verstärkt werden solle, zuerst an den nicht-gymnasialen Schulformen begonnen werden solle. CDU-Bildungspolitiker Tischner nannte diese Sichtweise, ausweislich der Berichterstattung im Freien Wort und der Südthüringer Zeitung, "respektlos und anmaßend gegenüber den Regelschülern und ihren Elternhäusern. Gleichzeitig zeugten sie von wenig Sachkenntnis, denn der Sozialkunde-Unterricht setze in Thüringen bereits jetzt später ein als an der Regelschule".
Ein solcher Widerspruch, insbesondere verbunden mit dem Vorwurf der Respektlosigkeit gegenüber nicht-gymnasialen Schülerinnen und Schülern sowie deren Elternhäusern, zwingt selbstverständlich zur Erläuterung, insbesondere seitens eines Politikers der Linkspartei, dem die Überwindung von Bildungsungleichheiten ein wichtiges Anliegen ist.
Hintergrund der gegenüber dem MDR getätigten Feststellung ist die Untersuchung "Politik unterricht im Fokus. Politische Bildung und Partizipation von Jugendlichen", die bereits 2013 von der Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht wurde. Der Studie lagen zwei wesentliche Fragestellungen zugrunde:
1) Welchen Einfluss übt der Politikunterricht im Kontext mit anderen Faktoren des sozialen Hintergrundes auf die Bereitschaft junger Menschen aus, sich in gesellschaftliche und politische Prozesse einzubringen?
2) Bei welchen Gruppen besteht Bedarf für zusätzliche politische Bildung, um die Partizipationsbereitschaft zu steigern?
Zur Beantwortung dieser Leitfragen wurden zunächst 1.153 Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 bis 25 Jahren befragt und weitere Studien der Wahl- und Sozialforschung zum politischen Partizipationsverhalten in unterschiedlichen sozialen Gruppen und Schichten ausgewertet. Die Autoren der Untersuchung, Dirk Lange, Holger Onken und Tobias Korn, kommen zu folgenden Ergebnissen:
a) Der soziale Hintergrund des Elternhauses übt einen hohen Einfluss auf die politische Partizipation Jugendlicher ausübt. Je höher der sozioökonomische Status, ausgedrückt in der Einkommenssituation und dem formalen Bildungshintergrund des Elternhauses, umso wahrscheinlicher ist eine eine Beteiligung der Jugendlichen an politischen Aktivitäten und umso stärker die generelle Wertschätzung politischer und gesellschaftlicher Partizipation einschließlich der Bereitschaft, sich in Zukunft zu engagieren.
b) Gleichzeitig sind schicht- und statusbezogene Faktoren des Elternhauses allein nichts ausreichend, um das Partizipationsverhalten zu erklären. Insbesondere entscheidet der Status des Elternhauses über den Besuch der jeweiligen Schulform und weiterführender Bildungseinrichtungen. Der bekannte Umstand, dass Kinder und Jugendliche aus nicht-akademischen Elternhäusern überproportional weniger weiterführende Schulformen und Hochschulen besuchen, prägt sich in dem hier in Rede stehenden Betrachtungsgegenstand dergestalt aus, dass junge Menschen, die einen akademischen Abschluss anstreben, politischer und gesellschaftlicher
Partizipation deutlich positiver gegenüberstehen als diejenigen, die andere Bildungsgänge anstreben. Die Ergebnisse untermauern, so die Autoren der FES-Studie, "dass sich Angehörige dieser Gruppe häufiger in einem sozialen Umfeld bewegen, in dem politische und gesellschaftliche Fragen offen diskutiert werden, was die Partizipationsbereitschaft ebenfalls positiv beeinflusst".
c) Auf Basis der beiden vorstehenden Erkenntnisse konnten die Autoren in ihrer Studie nicht nur zeigen, dass der Politikunterricht die gesellschaftliche und politische Beteiligung steigern kann, sondern diese Steigerung qualitativ unterschiedliche Formen annimmt. Kurz gesagt besteht die Wirkung des Politikunterrichts für Schüler/-innen aus Akademiker-Elternhäusern vorrangig darin, bereits bestehende Kenntnisse und Kompetenzen im Feld Politik zu verstärken, da Impulse für eine politische oder gesellschaftliche
Beteiligung häufig bereits aus dem familiären und weiteren privaten Umfeld kommen. Für Jugendliche hingegen, die keinen akademischen Abschluss anstreben und nicht aus Akademiker-Elternhäusern stammen, ist der Politikunterricht, so die Autoren, "dagegen oftmals der einzige Ort, an dem sie sich aktiv mit politischen Fragen auseinandersetzen. Handlungsbedarf für die Politische
Bildung zur Steigerung der Bereitschaft, sich an politischen Prozessen und am zivilgesellschaftlichen Leben zu beteiligen, besteht also insbesondere in Schulformen und Ausbildungsgängen, die zu formal mittleren und unterdurchschnittlichen Abschlüssen führen."
Diese empirischen Befunde sind zunächst zur Kenntnis zu nehmen. Ebenso die daraus gezogene Schlussfolgerung, dass der Politikunterricht gerade an denjenigen Schulen verstärkt werden muss, an denen der Anteil von Schülerinnen und Schülern aus Elternhäusern mit einem geringeren sozio-ökonomischen Status höher ist. Es zeugt angesichts dessen gerade nicht von mangelndem Respekt gegenüber den betreffenden Elternhäusern, wie der CDU-Bildungspolitiker Tischner suggeriert, sondern vielmehr von der Wahrnehmung und der Arbeit mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.
Dass soziale Exklusion vielfach mit politischer Apathie einhergeht, zeigen die Wahl- und Sozialforschung seit langem. Insoweit sind zwei Aspekte wichtig: Sowohl bei der Stärkung des Politikunterrichtes nicht zuerst bei den Gymnasien sondern nicht-gymnasialen Schulformen zu beginnen, als auch die Daueraufgabe zu bewältigen, die gläserne Decke zu entfernen, die es Kindern aus Nicht-Akademikerhaushalten bisher schwer macht, stärker als bislang Zugang zu Gymnasien und Hochschulen zu erhalten.
Verwendete Literatur
Reinhold Hedtke/Mahir Gökbudak 2018, Ranking Politische Bildung 2017. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I, Working Paper No. 7, hrsgg. von der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
Dirk Lange/Holger Onken/Tobias Korn 2013, Politikunterricht im Fokus. Politische Bildung und Partizipation von Jugendlichen. Empirische Studie., hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.
Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.