08.10.2024
Kultur

Leben ohne Verdünnung - Otto Dix-Werkschau in Gera

„Drei Buchstaben, spitz und stechend, kurz und grell wie ein zorniger Schlag ins Gesicht, eindeutig wie tödlicher Haß, höhnisch zischend, fauchend vor Wut, vorwärts stürmend zu heißer Attacke. Otto Dix! Dix!! Dix!!! [...] Merkt Euch, Proletarier, diesen Namen! Bemüht Euch um sein Werk! Verfolgt sein Schaffen! Er ist Fleisch von eurem Fleisch und Blut von eurem Blut."

Diese emphatischen Worte ruft im Februar 1926 der Geraer Volkshochschullehrer Oskar Greiner der Ostthüringer Arbeiterschaft zu. Anlass seines prägnanten Charakterporträts des Künstlersohns der Industriestadt Gera war dessen erste Einzelausstellung in der Galerie Nierendorf im fernen Berlin.

Keine 20 Monate später ist Dix zurück in Gera. Heimgeholt an den Ort seiner Wurzeln vom Künstlerbund Ostthüringen. Der präsentiert den zum Professor der Dresdner Kunstakademie aufgerückten Landsmann in der Herbstausstellung 1927 mit heute fast unvorstellbar knapp 100 aktuellen Werken. Dix wird unter dem Motto »Hecht im Karpfenteich« gefeiert.

„Ist es nicht ein dröhnender Witz und ein Symptom zugleich: Otto Dix hat in dieser thüringischen Ausstellung Heimatrecht", bemerkt der in Gera aufgewachsene Revolutionär und Schriftsteller Erich Knauf, der 1944 von den Nazis hingerichtet werden wird.

Seine Rezension für die sozialdemokratische »Ostthüringer Tribüne« ist die hellsichtigste von allen. Sie ist einerseits eine Antwort auf das Unbehagen in den Reihen der Arbeiterklasse, deren Kunstgeschmack und vorherrschendes Optimismusverständnis von Dix‘ Selbstverständnis »Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Häßlichkeit, das Leben ohne Verdünnung« schwer auf die Probe gestellt wird.

Sie ist andererseits eine Vorwegnahme des Formalismus-Desasters in der jungen DDR. Womit nicht mehr und nicht weniger als die Unterdrückung der klassischen Moderne durch den sowjetisch geprägten sozialistischen Realismus und die Verherrlichung des zeitgenössischen Stalin-Kitsch gemeint ist. Erich Knauf schreibt: „Der ‚proletarische Charakter', das heißt nicht: ein Anzug von gestern mit einem Parteiabzeichen im Knopfloch. Dix malt keinen Zukunftsstaat, idealisiert keine Arbeiterköpfe, er konstatiert den Zusammenbruch der bürgerlichen Welt, aus dem er den Anbruch neuer Dinge vorläufig noch nicht erkennt."

Zur bitteren Ironie deutscher (Kunst)Geschichte gehört, dass Otto Dix erst ein Jahrzehnt später wieder in einer Geraer Ausstellung vertreten sein wird: 1937, dem Jahr der nationalsozialistischen Kulturkatastrophe. Zur selben Zeit, in der er in München als »entarteter« Künstler gebrandmarkt wird, sind in einer Jubiläumsschau anlässlich der 700-Jahrfeier, die der Geraer Kunstverein in aller provinziellen Unschuld oder einem gewagten Versuch des Widerstands zeigt, zwei unverfängliche Dix-Gemälde zu sehen – geschlagene vierzehn Tage, bis sie auf Anweisung der Berliner Reichskammer der bildenden Künste abgehängt werden müssen.

„Skeptisch. Das ist mein Erbteil aus Thüringen" – bemerkt Dix achtzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Faschismus zu Freunden in seinem süddeutschen Refugium am Bodensee. Skeptizismus als Erbe nicht nur der geografischen, sondern auch der sozialen Herkunft.

Dix wird als Sohn eines Eisenformers geboren. Am Rand der aufblühenden Industriestadt Gera wächst er inmitten einer weitverzweigten Familiendynastie hochqualifizierter Industriearbeiter und aktiver Sozialdemokraten auf. Diese in der deutschen Kunst des 20. Jahrhundert singuläre Prägung macht Dix zu einem Ausnahmekünstler der Arbeiterklasse.

Die DDR bemüht sich um einen offiziellen Kontakt zwischen Dix und seiner Heimat. Gera entdeckt – verspätet, aber voller Tatendrang – ihren bedeutendsten Künstlersohn und beginnt sich um ihn – den realsozialistischen Zwängen zum Trotz – zu bemühen: mit Jubiläumsehrungen und dem Aufbau einer eigenen Sammlung. Und als die Stadt Gera den Künstler Otto Dix 1966 zu ihrem Ehrenbürger macht, besucht er, inzwischen weltberühmt, seine Ostthüringer Heimat ein letztes Mal, bevor er nach einem zweiten Schlaganfall 1969 in Singen am Bodensee stirbt.

Noch einmal knapp ein halbes Jahrhundert später, fast hundert Jahre nach der Ausstellung von 1927 ist es nun soweit: Unter dem Titel »Otto Dix. Trau Deinen Augen« widmet die Stadt dem Ausnahmekünstler mit Unterstützung der vormaligen rot-rot-grünen Landesregierung eine umfassende Werkschau in der Orangerie der Kunstsammlung Gera.

Mehr als 200 Werke des Künstlers, darunter über 80 Originale, sind im Kontext seiner Thüringer Herkunft und der späteren Lebensstationen zu sehen. Ergänzt wird die Installation, die die Thüringer Landeszeitung zu Recht als »Otto-Dix-Welt« bezeichnete, durch interaktive Medienstationen und einen Multimediaraum zu Hauptwerken aus der Ära der Weimarer Republik.

Die Präsentation dieser Werke wird nicht der baulichen Hülle der Orangerie angepasst, sondern die Orangerie stellt sich mit ihrem Raum freimütig der Werkschau zur Verfügung.

Die Präsidentin der Klassik-Stiftung Weimar, Dr. Ulrike Lorenz, die wohl eine der, wenn nicht die bedeutsamste Dix-Kennerin im deutschsprachigen Raum ist, kuratierte dieses Projekt. Ihre Handschrift ist erkennbar bis in die Begleittexte der Werke, die den Besuchenden eine sprachliche Zugangsbrücke eröffnen, die anderen Ausstellungen zu wünschen wäre. Ohne sie wäre diese Ausstellung vermutlich nicht zustande gekommen.

In Ostdeutschland ist das Mäzenatentum aus den historischen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts erklärbar, geringer ausgeprägt. Wo im Wesentlichen keine Unternehmenszentralen zu Hause sind, fehlen auch die privaten Stiftungen, die solche Vorhaben initiieren und befördern. Umso bedeutsamer ist die Vereinbarung von Stadt, Land und der »Otto-Dix-Stiftung Vaduz«, der die Werke, die hier gezeigt werden, in wesentlichen Teilen gehören. Die Stiftung gab den Anstoß für die Neuausrichtung der Orangerie als Standort dieser Werkschau, die nunmehr ihren dauerhaften Platz hier finden wird. Dafür mussten bisherige Planungen für die Orangerie aufgegeben und Mittel bereitgestellt werden. Die dafür nötige diplomatische Kontaktaufnahme, Übersetzungsleistungen zwischen Stiftung und öffentlicher Verwaltung und Vertrauensarbeit gewährleistete Frau Lorenz, die auf das ehrliche und hellsichtige Engagement des vormaligen Oberbürgermeisters Julian Vornab traf. Ein glückliches Zusammentreffen.

Dies alles ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem geplanten Otto-Dix-Museum, das künftig das 1991 eröffnete Geburtshaus ergänzen soll. So könnte sich Gera auf das Wirksamste mit den Dix-Sammlungen im Museum Gunzenhauser Chemnitz und in der Galerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden verbünden und einen starken Impuls in den ostdeutschen Bundesländern setzen. Thüringen und Sachsen, wo Dix zum Künstler wurde und sich zeitlebens zu Hause fühlte, bildet ein sinnvolles »Ost«-Pendant zu Deutschlands wichtigster Dix-Sammlung im Kunstmuseum Stuttgart, zu dem auch das Otto-Dix-Haus Hemmenhofen – Dix' zweite deutsche Heimat – gehört.

Es bleibt zu wünschen, dass diese Ausstellung zur Stärkung des Selbstbewusstseins der Ostthüringer Region beiträgt. Gera und die Region blicken oft, möglicherweise zu oft, zurück auf frühere Blütezeiten und wenden sich umso enttäuschter der Gegenwart und Zukunft zu. Zitieren wir deshalb noch einmal Erich Knauf von 1927:  „Dix malt keinen Zukunftsstaat, (...) er konstatiert den Zusammenbruch (...), aus dem er den Anbruch neuer Dinge vorläufig noch nicht erkennt."

Die Vergangenheit ist wie ein Trichter, der an der schmalsten Stelle in die Gegenwart mündet, die dadurch beengt und die Zukunft wenig zuversichtlich erscheint. Wird die Zukunft wiederum als der spiegelbildliche Trichter gesehen, der an der schmalsten Stelle angesetzt wird und sich in die unterschiedlichsten Optionen öffnet und weitet, würde die Otto-Dix-Werkschau ebenso überraschte Gäste nach Gera bringen, wie es die Bürgerinnen und Bürger Geras und der Region stolz macht und ihnen Zuversicht vermittelt. Quasi in einer dialektischen Fortführung von kritischem Realismus und der thüringischen Skepsis von Otto Dix.

[Dieser Beitrag entstand mit fachlicher Unterstützung zu Otto Dix von Dr. Ulrike Lorenz]

* * *

Die Dauerausstellung »Otto Dix. Trau Deinen Augen« in der Kunstsammlung Gera / Orangerie, Orangerieplatz 1, 07548 Gera ist für Besucher:innen geöffnet Dienstags bis Sonntags 11:00 Uhr bis 17:00 Uhr.

 

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

Buchcover
Neue Wege gehen
Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird
Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Buchcover
Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.