Un·ver·ein·bar·keit
Die Abgrenzungsbeschlüsse der CDU zur Linkspartei dienen der innerparteilichen Sammlung. Inhaltlich sind sie anachronistisch und in der Wirkung stellt sich die Union selbst eine Falle.
Im Herder-Verlag erschien vor wenigen Tagen „Wie der Osten Deutschland rettet“. Gegen die Krisenerzählungen entwirft Mario Czaja, bis Juli 2023 Generalsekretär der CDU, vormaliger Gesundheits- und Sozialsenator in Berlin und Ostberliner Politiker, ein Bild Ostdeutschlands als Region, das Labor für Innovation und Fortschritt sein könnte.
Dass Mario Czaja und ich uns aus gemeinsamer politischer Arbeit seit langer Zeit kennen und für einige Tage wohl die bislang einzige Konstellation eines linken Staatssekretärs im Dienste eines CDU-Senators lebten, berichtet er in seinem Buch, für das ich zu den spezifischen Thüringer Verhältnissen neben Christine Lieberknecht und Mike Mohring Gesprächspartner sein durfte.
Anzunehmen ist, dass gerade in der Endphase der ostdeutschen Wahlkämpfe in Sachsen, Thüringen und Brandenburg das Kapitel „Abschied von der Hufeisentheorie“ bei den Strategen im Konrad-Adenauer-Haus aber auch Wahlkämpfern wie Mario Voigt, freundlich ausgedrückt, keine Begeisterung hervorrufen dürften. Czaja führt aus:
„[…] Ich habe Thüringen als Beispiel gewählt, da sich dort die Fehlerhaftigkeit der Anwendung dieser Theorie am praktischsten veranschaulichen lässt. Auf der einen Seite ein erfahrener Gewerkschaftsfunktionär, Mitglied der Linkspartei, Gesprächspartner der Bundesregierung. Auf der anderen Seite ein nachweisbar Rechtsextremer, überwacht vom Verfassungsschutz, den mal offiziell als ‚Faschisten‘ bezeichnen darf.
Unterstellt man beiden Parteien den gleichen Extremismus, dann kommt es nicht nur offensichtlich zur fehlerhaften Einordnung der Linken. Dadurch entsteht ein weiteres Problem. Es kommt auch zu einer Verharmlosung einer tatsächlich extremistischen Partei. Besonders in Bezug auf Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit sehe ich dies als erhebliches Problem.“
Anhand eigener Erlebnisse und unter Bezug auf wissenschaftliche Analysen unterbreitet Czaja im Weiteren seine Annahme, dass die spezifischen Bedingungen des Übergangs von der DDR-Diktatur zur Demokratie und der Neu- bzw. Wiedergründung unter dem SED-Regime nicht geduldeter Parteien wie SDP/SPD und Neuem Forum/Grünen, die frühere PDS und heutige LINKE als ostdeutsche Regionalpartei etablierte. Unter anderen Bedingungen wäre sie heute nicht nur ihrer überwiegenden politischen Praxis in den ostdeutschen Ländern und Kommunen, sondern auch dem Namen nach Sozialdemokratie.
Selbstverständlich dürfte in den Reihen meiner Partei eine solche Beschreibung ebenso Zustimmung wie Ablehnung hervorrufen. Dies genauer zu betrachten, muss einem anderen Text vorbehalten bleiben. Denn hier geht es, ausgehend von der Zustimmung zur These von Mario Czaja sowie seinen daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen um die absehbaren Probleme, die sich aus dem Hufeisen-gestützten Unvereinbarkeitsbeschluss für Thüringen ergeben. Und ich werde darstellen, dass Unvereinbarkeitsbeschlüsse für die CDU in der Vergangenheit eine sehr lose Bindungswirkung hatten. Ein Umdenken ist also möglich.
In den Umfragen zur Thüringer Landtagswahl führt die AfD zwar weiterhin die Rangliste an. Doch wenn es um die Frage geht, wer in Thüringen künftig regieren wird, entscheidet sich das Rennen zwischen der CDU, dem Game-Changer Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der Linken. Und von klaren Mehrheitsverhältnissen scheint Thüringen gegenwärtig erneut entfernt.
Die Besorgnis, wie es in Thüringen, Sachsen und Brandenburg nach den ostdeutschen Landtagswahlen weitergeht ist deshalb groß. Mindestens ebenso groß sind die Gelegenheiten, das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen. Sowohl als Demokrat:innen, die wenigstens zwei Drittel der Gesellschaft umfassen, als auch in den klassischen politischen Milieus, deren Bindungskraft weiterhin abnimmt.
Vor diesem Hintergrund kommt dem Umgang der Parteien jenseits der AfD und ihrer Fähigkeit, miteinander zu stabilen Vereinbarungen zu kommen, eine gewichtige Rolle zu. Mit Bernd Ulrich (DIE ZEIT) ist freilich zu konstatieren: „diese [demokratische] Übermacht ist derzeit nicht mehr und nicht weniger als ein Hühnerhaufen“. Dies muss aber nicht so bleiben. Dazu wären ideologische Scheuklappen abzulegen und überholte Narrative in die Mottenkiste zu packen.
Nötig ist insoweit nicht mehr und nicht weniger als die Überprüfung bisheriger Gewissheiten – insbesondere in Zeiten der Neukonfiguration des Parteiensystems. Das sogenannte Hufeisentheorem, nachdem die Extreme von links und von rechts sich einander näher und gleich weit vom demokratischen Zentrum entfernt sind, findet seine Entsprechung in den Unvereinbarkeitsbeschlüssen der CDU. Diese wiederum unterlagen in der Vergangenheit Anpassungen und waren niemals so sakrosant, als die sie gemeinhin aus der Union heraus kommuniziert wurden. Es spricht deshalb viel dafür, dass auch unsere Zeit die ostdeutsche und insbesondere die Thüringer Union vor die Herausforderung stellt, ihren Kompass neu zu kalibrieren.
Christdemokratische Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Widersprüche
In der Tageszeitung DIE WELT vom 04.01.2024 fasste Nikolaus Doll zutreffend zusammen:
„[…] die CDU unterliegt nicht nur dem selbst verordneten Kooperationsverbot mit der AfD, sondern – anders als SPD und Grüne – auch einem entsprechenden Verbot Richtung Linkspartei. Das heißt: In Ländern, in denen die AfD nach den Landtagswahlen deutlich vorne liegt, bleiben den Christdemokraten nur wenig Koalitionsmöglichkeiten.“
Die auf dem sogenannten Hufeisentheorem basierende Überzeugung gleichartiger extremistischer Ränder ist die Basis der verschiedenen Unvereinbarkeitsbeschlüsse, die von der CDU seit den 1980er Jahren nach links sowohl gegenüber den Grünen und später dann der PDS bzw. Linkspartei und nach rechts zunächst gegenüber NPD, DVU und gegenwärtig der AfD gefasst wurden.
Lebensweltlich führten und führen diese Unvereinbarkeitsbeschlüsse die Christdemokraten in eine Vielzahl von Widersprüchen und letztlich unmögliche Situationen, wie insbesondere anhand der schwarz-grünen Annäherungen aber auch aktuell an den widersprüchlichen Aussagen zum Umgang mit dem BSW nachgewiesen werden kann.
Am 10. Juni 2024 äußerte sich der CDU-Parteivorsitzende Friedrich Merz im ARD-Brennpunkt auf die Frage, ob er bereit sei, über eine Zusammenarbeit oder Koalition mit dem BSW nachzudenken, um AfD-Ministerpräsidenten im Osten zu verhindern: „Das ist völlig klar, das haben wir auch immer gesagt. Wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen.“ Er fürchte im Hinblick auf Sahra Wagenknecht an: „Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.“
Diese apodiktische Aussage, die offenbar innerhalb der Parteispitze der Union nicht abgestimmt war, bringt seinen Parteifreund Mario Voigt in die Bredouille. Denn ohne die Westentaschreserve BSW wäre er erneut zurückgeworfen auf seine illusorische Vision einer „Deutschlandkoalition“ oder ein irgendwie geartetes Minderheitsbündnis. Deshalb relativierte Voigt die Aussagen seines Parteivorsitzenden, indem er daraufhin wies, dass dessen Aussage nur für die Bundesebene gelte, während er zugleich das Thüringer BSW umgarnte und behauptete, er würde von diesem „mehr Vernünftiges als von Linken und Grünen, insbesondere in der Migrations- und Bildungspolitik hören“. Diese Haltung ist inzwischen common sense in der Union.
Kurzum: Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der Union sind, wie nachstehend dargelegt wird, Instrumente innerparteilicher Sammlung. In ihrer Wirkung unterliegen sie kühlem Machtpragmatismus.
Schwarz-Grün: Wie aus Erzfeinden Bündnispartner wurden
Die vorstehende Zwischenüberschrift ist dem Titel des 2017 von Christoph Weckenbrock entlehnt. Er legt darin den Weg vom Eintritt der Grünen in das bundesdeutsche Parteiensystem bis zu den ersten schwarz-grünen Bündnissen auf kommunaler und später Landesebene dar.
Der Wert Weckenbrocks Studie liegt in der Herausarbeitung der Ambivalenz zwischen machtpolitischen Überlegungen schwarz-grüner Zusammenarbeit, bis hin zur Überspitzung dieser Zusammenarbeit als bürgerlich-generationale Wiedervereinigung oder konservativ-ökologisches Modernisierungsbündnis, einerseits und andererseits die Akzeptanz der jeweils anderen Seite „nicht nur als emotionales und identitätsstiftendes, sondern vor allem auch wahlstrategisch notwendiges Feindbild“ (Weckenbrock 2017: 93).
Am 21. Februar 1985 beschloss der CDU-Bundesvorstand einstimmig die Unvereinbarkeit schwarzer und grüner Zusammenarbeit auf allen politischen Ebenen: Die Union werde sich „niemals um der Macht willen auf Absprachen oder gar Koalitionen mit einer politischen Kraft einlassen, an deren rechtstaatlicher Zuverlässigkeit und demokratischer Glaubwürdigkeit begründete Zweifel bestehen“.
Weckenbach zitiert aus einem Strategiepapier der CDU aus dem Frühjahr 1989 – die Republikaner als rechte Abspaltung der CSU feierten seinerzeit relevante Wahlerfolge –, in dem ausgeführt wird: „Wichtig ist, daß Links- und Rechtsradikale möglichst häufig in einem Atemzug genannt werden, daß deren Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, damit die Ablehnung gegenüber Linksradikalen auch gegen die REP gewendet werden kann. […] Je klarer die Abgrenzung zwischen der CDU und rot-grün ist, um so leichter sind potentielle REP-Wähler an die CDU zu binden.“ (Weckenbrock 2017: 101)
Dieses Muster ist bis heute in unterschiedlicher Auflage wiedererkennbar. Mario Voigts Wahlstrategie greift darauf, wie aus oben zitierten Interviews deutlich wird, zurück. Gleichzeitig versucht er zweierlei, um der unbestreitbaren Popularität des Ministerpräsidenten Ramelow entgegenzuwirken. Die CDU soll, so das Narrativ, die einzige tatsächlich wirksame Kraft gegen die AfD sein. Sie soll „inhaltlich gestellt“ werden. Dass dies im Widerspruch dazu steht, die AfD als Westentaschenreserve zu nutzen, sei dahingestellt. Darüber hinaus wird Ministerpräsident Ramelow als Person ohne politische Zukunft dargestellt. Dass die damit erhoffte Wirkung eintritt, ist bislang nicht zu erkennen.
Am 4. Juli 1989 fasste das Parteipräsidium der CDU einen erneuten Unvereinbarkeitsbeschluss, der „jede Vereinbarung über eine politische Zusammenarbeit und jede Koalition mit links- und rechtsradikalen Parteien wie z.B. den Kommunisten, den Grünen/Alternative Liste, den Republikanern, den Nationaldemokraten und der Deutschen Volksunion“ ablehnte und die Landesverbände der CDU aufforderte, „die Einhaltung dieses Beschlusses sicherzustellen“ (Weckenbrock 2017: 101f.)
Weckenbrock analysiert: „Die Entscheidung des Präsidiums war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen wurden die Grünen nicht mehr ‚nur‘ als linksradikale Partei bezeichnet, sondern ganz offiziell auch auf eine Ebene mit DKP, NPD und DVU gestellt. Zum zweiten verbot die traditionell dezentrale und föderalistisch geprägte Union ihren Gliederungen bis hinunter zu den Ortsverbänden jegliche Zusammenarbeit mit den Grünen und ignorierte, dass es in den 1980er Jahren bereits in mancher Kommune zu verschiedenen Kooperationsformen zwischen CDU und Grünen gekommen war.“ (Weckenbrock 2017: 102)
Obwohl der damalige Vorsitzende der CDU-NRW, Ronald Pofalla, den Beschluss kritisierte und feststellte, dass die Grünen „eindeutig auf dem Boden der Verfassung stehen“, beschlossen die Delegierten des Bremer CDU-Parteitages im September 1989 fast einstimmig die vom Präsidium vorgelegte Unvereinbarkeit.
Die Friedliche Revolution und deutsche Wiedervereinigung, mit den daraus erwachsenden Veränderungen im Parteiensystem, führten nur drei Jahre später, im Oktober 1992 dazu, dass per CDU-Parteitagsbeschluss die Grünen kurzerhand durch das neue »politische Schmuddelkind«, die PDS ersetzt wurden (Weckenbrock 2017: 103).
Wie hoch der praktische Gültigkeitswert des noch geltenden Unvereinbarkeitsbeschlusses aus dem Jahre 1989 einzuschätzen war, lässt sich daran ermessen, dass am 7. April 1992 der damalige CDU-Ministerpräsident Baden-Württembergs, Erwin Teufel, Sondierungsgespräche mit den Grünen in Baden-Württemberg ankündigte und der SPIEGEL formulierte: »Einfach fabelhaft: Die geschwächte CDU bricht ein Tabu: an den Grünen findet sie nichts Schlimmes mehr«.
Jede Situation ist konkret
Die CDU nennt sich nicht ohne Grund »Union«, wie ein befreundeter Christdemokrat beim Lesen einer Fassung dieses Papiers bemerkte. Sie ist vermutlich die am stärksten föderal geprägte Partei, bei der sich mit den Worten des Parteienforschers Frank Decker „straffe Führung und einheitliches Handeln […] mit einem stark föderativ geprägten und pluralistischen Aufbau der Organisation“ verbinden. Und weiter: „Die Landesverbände zeichnen sich traditionell durch ein hohes Maß an Eigenständigkeit aus, das in unterschiedlichen programmatischen Profilen Niederschlag findet“.
Darin liegt u.a. begründet, dass der Parteivorsitzende Merz die Grünen zum Hauptgegner ausrufen kann ohne dass dies die Regierungsbündnisse in NRW, Brandenburg, Sachsen oder Baden-Württemberg sowie seinerzeit in Hessen beeinträchtigt wurden. Wer, wenn nicht diese Partei, dürfte es aushalten, eine gelassen realistische Haltung gegenüber der LINKEN, die in Sachsen und Brandenburg gegenwärtig bei 10 Prozent verharrt und in Thüringen, wo die Partei bald zehn Jahre den Ministerpräsidenten stellt, zu entwickeln.
Bisherige Unvereinbarkeitsbeschlüsse formal zu revidieren, setzt einen Parteitagsbeschluss voraus. Unterhalb dessen würde politische Beinfreiheit schon dadurch gewonnen, dass relevante Verantwortungsträger:innen in der CDU zumindest anerkennen, dass die Partei DIE LINKE und die AfD eben nicht totalitäre Zwillinge sind. Während die erstere seit mehr als 30 Jahren an der demokratischen Gestaltung des bundesdeutschen Gemeinwesens teilnimmt, ist die letztere in mehreren Bundesländern als gesichert rechtsextremistisch eingestuft.
Grundsätzlich hat die Partei diesen Weg auch bereits beschritten. Im CDU-Papier »Unsere Haltung zu Linkspartei und CDU« aus dem Jahr 2020 wird formuliert: „Setzt die CDU Linkspartei und AfD gleich? Nein! Wir erkennen die Unterschiede zwischen beiden Parteien. Und es gibt auch unterschiedliche Gründe, warum wir mit beiden Parteien nicht zusammenarbeiten wollen. Aber es geht bei beiden Parteien um grundsätzliche Unvereinbarkeiten mit den Werten und Grundsätzen der CDU. Deshalb kommt für uns eine Zusammenarbeit mit Linkspartei und AfD nicht in Frage.“
Als Gründe für die Unvereinbarkeit der Zusammenarbeit zwischen CDU und Linkspartei benennt die Union, dass sich die Soziale Marktwirtschaft und der demokratische Sozialismus unvereinbar gegenüberstehen. Die Zusammenarbeit der Linken mit linksextremen und autonomen Gruppen sowie die diametralen Grundüberzeugungen in der Außen- und Sicherheitspolitik werden darüber hinaus genannt. Verwiesen wird zudem darauf, dass die Linke die SED-Nachfolgepartei sei, und sich „mehr schlecht als recht“ vom SED-Unrecht distanziert habe.
Gleichwohl findet in Ostdeutschland seit Jahren auf unterschiedlicher Ebene Zusammenarbeit zwischen der LINKEN und der CDU statt. Sei es in Kommunen oder sei es in parlamentarischen Kontexten. In Thüringen wurde 2020 ein »Stabilitätspakt« zwischen der CDU und der rot-rot-grünen Minderheitskoalition verabredet und bis in das laufende Jahr hinein konkrete Verabredungen über wesentliche staatspolitische Entscheidungen abgestimmt getroffen. Vor allem die Beschlussfassung von Landeshaushalten, die Vereinbarung eines – im Übrigen verfassungskonformen – Thüringer Energiekrise- und Corona-Pandemie-Hilfefonds (Sondervermögens) u.a.m.
Dies alles trotz Unvereinbarkeitsbeschluss. Denn den Spagat zwischen dem formellen Unvereinbarkeitsbeschluss und der Lösung der konkreten Situation für die CDU in Thüringen bedeutete, beschrieb die Union im Positionspapier aus dem Jahr 2020 wie folgt:
„Für uns steht unumstößlich fest: Die CDU Deutschlands darf niemals – weder direkt noch indirekt – dazu beitragen, dass Nazis wie Björn Höcke und andere in der AfD Einfluss auf Regierungsämter und Regierungshandeln haben. Insofern war es richtig und notwendig, dass Thomas Kemmerich (FDP) am 8. Februar 2020 seinen Rücktritt vom Amt des Thüringer Ministerpräsidenten erklärt hat.“
Ebenso wurde aber auch eine Wahl von Bodo Ramelow als Thüringer Ministerpräsident mit Stimmen der Abgeordneten der CDU-Fraktion Thüringen aus oben genannten Erwägungen ausgeschlossen. Das Präsidium der Bundes-CDU, Landesvorstand und Landtagsfraktion stimmten darin überein, einen von der LINKEN aufgestellten Ministerpräsidenten nicht aktiv (sic!) ins Amt zu wählen. Dies bedeutete im Wesentlichen nichts anderes als den Rückgriff auf einen Vorschlag Alfred Dreggers von 1982.
Der hessische CDU-Politiker schlug, als die Grünen ihre ersten parlamentarischen Erfolge feierten und sowohl in Hamburg als auch in Hessen aufgrund ihrer Stimmenerfolge die klassischen Regierungsbildungen erschwerten, eine Vereinbarung aller Bundestagsparteien vor, die in Bund und Ländern eine Regierungsbildung ohne Unterstützung der Grünen ermöglichen sollte, erinnert Christian Weckenbrock (2017:74): „Demnach sollte die stärkste Partei, sofern sie nicht über die absolute Mehrheit verfügte, die Regierungsverantwortung dadurch übertragen bekommen, dass einige oppositionelle Abgeordnete bewusst der entscheidenden Abstimmung über den Regierungschef fernblieben.“ Seinerzeit verweigerte sich die SPD dieser Verständigung, da sie sich einem von ihr kritisierten »Parteienkartell« nicht anschließen wollten und die GRÜNEN, bei aller Kritik, nicht als grundsätzliche Demokratiefeinde anzusehen bereit waren.
Doch etwas mehr als vier Jahrzehnte später agierte die CDU exakt in diesem Sinne. Und griff damit auf eine Methode zurück, die in den skandinavischen Ländern seit langer Zeit als sogenannter »negativer Parlamentarismus« bekannt ist und dem zugrunde liegt, dass ein Ministerpräsident gewählt und ein Gesetz auch dann beschlossen ist, wenn eine Mehrheit sich nicht dagegenstellt, auch wenn es sich um einen Ministerpräsidenten einer Minderheitsregierung handelt.
Für DIE LINKE stellt sich die Sachlage ein Stück weit einfacher als für die CDU dar. Obwohl als Partei um Fehlentscheidungen, insbesondere aus programmatischer Verengung nie verlegen, fasste sie weder einen Unvereinbarkeitsbeschluss, noch vollzog sie – bei aller Kritik an politischen Aussagen der Union – den Ausschluss der CDU aus dem Kreis der demokratischen Parteien.
Demokratische Mehrheiten in der »Bunten Republik Deutschland«
Gegenwärtig bestehen in den 16 Bundesländern zehn verschiedene Regierungskonstellationen (wenn man in der selben Farbkombination die jeweils stärkste Partei unberücksichtigt lässt):
- eine Alleinregierung (SPD, SL),
- eine Koalition aus CSU und Freien Wählern (BY),
- drei schwarz-grüne Bündnisse (BW, NW, SH),
- zwei schwarz-rote Koalitionen (BE, HE),
- zwei rot-grüne Landesregierungen (HE, NI),
- zwei Bündnisse aus LINKEN, Grünen und SPD (HB, TH),
- zwei ostdeutsche Regierungen aus SPD, CDU und Grünen (BB, SN),
- ein Deutschland-Bündnis (ST),
- eine Ampel-Regierung (RP)
- sowie einmal Rot-Rot (MV).
Die gegenwärtigen Kenia-Regierungen in Sachsen und Brandenburg sowie in Sachsen-Anhalt (zwischen 2016 und 2021) waren und sind zu keinem Zeitpunkt konfliktfrei. Sie dienten und dienen dazu, eine stabile und funktionsfähige Regierung jenseits der rechtsextremen AfD zu bilden.
Grundsätzlich nötig sind politisch tragfähige Vereinbarungen zwischen demokratischen Parteien, basierend auf der Erkenntnis, dass ein instabileres Parteiensystem einerseits mit einem gegenwärtig zwischen einem Fünftel bis einem Drittel umfassenden Block rechtsextremistischer Abgeordneter andererseits, neues Denken und Handeln erfordert [vgl. Hoff 2023].
Diese Erkenntnis gab es am 5. Februar 2020 in Thüringen nicht. Weder staats- oder verfassungspolitisches Verantwortungsbewusstsein, allein politisches Kalkül waren bestimmend für die staatspolitische Krise Thüringens, in der erstmals nach der Wiedergründung 1990 ein Ministerpräsident mit den Stimmen von Rechtsextremisten gewählt wurde. Ein vergleichbares Ereignis in Thüringen gab es erstmals nach der Landtagswahl 1924, wie ich an anderer Stelle ausführte [vgl. Hoff 2024].
Sieht man einmal davon ab, dass die Schnittmenge zwischen den rot-rot-grünen Parteien am größten ist und dem Bündnis mit 42 von 90 Abgeordneten nur vier Stimmen zur Mehrheit fehlen, während CDU und FDP zusammen auf gerade einmal 25 Mandate kommen, bestünde – was die CDU beharrlich verschweigt in dem sie den Unvereinbarkeitsbeschluss mit der LINKEN in das Schaufenster der politischen Auseinandersetzung stellt - seit der Landtagswahl 2019 auch die Möglichkeit einer Koalition aus zwei Parteien, die gemeinsam auf 50 der 90 Mandate kämen: DIE LINKE mit 29 Abgeordneten und die CDU mit 21 Landtagsmitgliedern.
„Das ist ja nun wirklich weit hergeholt“ lautet gemeinhin die Antwort auf diesen Hinweis. Wie sollten denn DIE LINKE und die CDU jemals in einem Bündnis gemeinsam zusammenarbeiten? Ein ebenso berechtigter wie zugleich wohlfeiler Hinweis. Denn angesichts der u.a. im Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs diskutierten Normänderungen dürfte die Erwartung nicht unberechtigt sein, dass sowohl im Konrad-Adenauer-Haus als auch im Karl-Liebknecht-Haus parteipolitische Dogmen zurückstehen, wenn es darum geht, „die Demokratie wetterfest zu machen“ (Iris Mayer in der Süddeutschen Zeitung). Und es ist – insbesondere in Ostdeutschland – nur schwer erklärbar, warum die CDU zwar mit ihrem selbsterklärten politischen Endgegner, den Grünen, in Kenia-Koalitionen zusammenarbeiten kann, DIE LINKE jedoch weiterhin verteufelt wird, aber man mit den Ex-Linken und Ex-Grünen im BSW problemlos zusammenarbeiten könne, als wenn die betreffenden Personen durch den Übertritt zum BSW eine Dekontaminierung im Hinblick auf die CDU-Unvereinbarkeitsbeschlüsse durchlaufen hätten. Das ist Augenwischerei – und alle können es sehen, wie in „Des Kaisers neue Kleider“.
Zukunft wird aus Mut und Pragmatismus gemacht.
Bodo Ramelow formuliert in seinem am 11. Juni 2024 veröffentlichen Text „Thüringen zuerst“:
„Die Journalistin Melanie Stein von ‚Wir sind der Osten‘ stellte jüngst eine aus meiner Sicht ungemein wichtige und kluge Frage: ‚Was ist dein Dafür?‘. Denn in den letzten Wochen wurden soziale Medien und öffentlicher Diskurs überflutet mit Anti- und Negativ-Campaigning. Jeder weiß, wogegen er oder sie ist.
Meine Verantwortung als Ministerpräsident und Politiker der LINKEN besteht darin, Hoffnung zu geben, wo andere Ängste schüren. Brücken zu bauen, wo andere gesellschaftliche Spaltung vorantreiben wollen. Darüber zu sprechen, was uns gelingt und wo wir künftig stehen wollen, wo andere das Land schlecht reden.“
Diese Herangehensweise speist sich aus Ramelows Überzeugung, dass wenn es darum geht, unseren Freistaat zu gestalten, fit für die künftigen Herausforderungen zu machen und die besten Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu finden, die Reihenfolge gilt: erst das Land, danach die Partei und die einzelne Person.
In diesem Sinne werden sich nach dem 1. September 2024 die demokratischen Parteien miteinander darüber verständigen, welche Schnittmengen es für die vor uns liegenden Aufgaben gibt und wie künftig miteinander regiert werden soll. DIE LINKE wird ohne Unvereinbarkeitsbeschluss im Gepäck in der Lage sein, sowohl erneut ein Mitte-Links-Bündnis zu schmieden, zu dem grundsätzlich auch ein BSW eingeladen ist, als auch mit der Union über (mehr oder weniger punktuelle) Gemeinsamkeiten zu sprechen.
Es wird an der CDU liegen zu entscheiden, ob sie ideologisch verbohrt und anachronistisch Bonner-Reflexen huldigen will oder nicht.
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Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.