Eine europäische Strategie gegen Antisemitismus braucht politische Klarheit – auch in Deutschland
Am 11. Februar 2022 diskutierte der Bundesrat unter Tagesordnungspunkt 12 die europäische Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens. In meinem Redebeitrag habe ich deutlich gemacht, warum diese Strategie gerade in Deutschland nicht nur notwendig, sondern Ausdruck politischer Verantwortung ist.
Wir neigen im Umgang mit dem Thema Antisemitismus in Deutschland dazu, in ritualisierte Formen zu verfallen, die der Komplexität und Aktualität dieses Phänomens nicht gerecht werden. Dabei ist Antisemitismus keine Episode der Vergangenheit, sondern eine bleibende Realität. Er war nie weg. Er ist Gegenwart – und damit alltägliche Herausforderung.
Wer zurückblickt, erkennt Kontinuitäten: Jüdische Remigrant:innen mussten nach 1945 im Osten wie im Westen um gesellschaftliche Anerkennung kämpfen. 1969 traf ein Anschlag die jüdische Gemeinde in Berlin, verübt von linker Seite. In den 1980er Jahren wurde ein Schwein mit dem Namen Heinz Galinski durch die Straßen Westberlins getrieben. Im Jahr 2000 brannte die Erfurter Synagoge – mit einem Bekennerschreiben, das sich explizit auf Adolf Hitler bezog. Bis zum Attentat in Halle und darüber hinaus reiht sich Vorfall an Vorfall.
Antisemitismus ist kein Ressentiment. Er ist kein Vorurteil im klassischen Sinn, das auf konkreter Erfahrung beruht. Er ist – mit Adorno gesprochen – „das Gerücht über den Juden“. Eine Verschwörungserzählung, die Jüdinnen und Juden nicht als Individuen, sondern als stereotype Projektionsfläche adressiert. Was ihn von anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit unterscheidet, ist seine ideologische Struktur: die Annahme, Juden seien das Problem, sie seien alle gleich, und sie seien eindeutig zu erkennen. Es ist dieses pseudowissenschaftliche Konstrukt, das antisemitisches Denken stabil hält – bis heute, auch in sozialen Netzwerken, wo es mit Fakten kaum noch konfrontiert wird.
Antisemitismus hat eine psychodynamische Funktion: Er bietet einfache Erklärungen für die Widersprüche der Moderne. Wo Menschen sich überfordert fühlen, entsteht die Versuchung, sich regressiv abzuschotten. Der „böse Andere“ wird zur Chiffre für das, was man nicht einordnen kann. Doch Gesellschaft ist widersprüchlich. Diese Widersprüche auszuhalten, ist Teil demokratischer Mündigkeit.
Wer nun behauptet, der Antisemitismus komme vor allem mit der Migration muslimischer Menschen nach Deutschland, legt ein neues Stereotyp auf das alte. Rechtsextreme Kräfte – ob mit oder ohne Mandat – versuchen, ihren traditionellen Antisemitismus zu modernisieren, indem sie ihn vermeintlich „humanitär“ umdeuten. Doch Antisemitismus hat keine religiöse oder politische Legitimation – egal, von wem er ausgeht. Ebenso inakzeptabel ist die pauschale Stigmatisierung aller Musliminnen und Muslime als antisemitisch. Das eine ist so falsch wie das andere.
Die Infragestellung des Existenzrechts Israels bleibt – gleich welcher Begründung – unakzeptabel. Ich erinnere mich an einen Besuch des Ausschusses für Europa, Kultur und Medien des Thüringer Landtags in Auschwitz. Parallel zu uns war eine Delegation der Israel Defense Forces vor Ort. Junge Soldatinnen und Soldaten, die in den Listen des Buchs der Namen die ihrer ermordeten Vorfahren suchten. In genau diesem Moment erklangen in deutscher Sprache nationalsozialistische Hetzreden über Lautsprecher. Es war kaum zu ertragen. Und doch war es eindrucksvoll, weil es sichtbar machte, was unser Kollege Professor Schramm seit Jahren betont: Hätte es in den 1930er-Jahren bereits Israel gegeben, hätten viele Jüdinnen und Juden einen Zufluchtsort gehabt.
Wenn heute auf Demonstrationen gegen die Corona-Politik Davidsterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen werden oder Menschen sich mit den Geschwistern Scholl vergleichen, dann ist das nicht nur geschmacklos – es ist antisemitisch. Es verharmlost den Holocaust. In Thüringen haben wir bereits Ende 2021 klargestellt, dass solche Symboliken auf sogenannten „Spaziergängen“ nicht hingenommen werden. Es wird strafrechtlich dagegen vorgegangen – und das ist gut so.
Die Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens ist Teil einer größeren europäischen Anstrengung, die Union als Wertegemeinschaft ernst zu nehmen. Europa ist kein rein ökonomisches Projekt. Es ist ein Projekt der Gleichheit und der Inklusion. Und eine Wertegemeinschaft muss in der Lage sein, ihre Werte zu verteidigen – Tag für Tag.
Was mir an der Strategie besonders wichtig ist: Sie spricht nicht nur über Gefahren, sondern auch über Potenziale. Zu oft reden wir über jüdisches Leben in der Vergangenheitsform. Aber jüdisches Leben ist Gegenwart. Die jüdische Gemeinde in Thüringen zählte 1989 etwa 30 Mitglieder. Heute sind es über 700 – vor allem durch Zuwanderung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Viele der heute hier lebenden jüdischen Kinder sind hier geboren, hier verwurzelt. Die jüdischen Gemeinden leisten bedeutende soziale Arbeit, nicht nur kulturelle.
Jüdisches Leben ist keine museale Veranstaltung. Es ist Teil unserer Gesellschaft. Es geht nicht nur um Schutz, sondern um Teilhabe, um Förderung, um Normalität. Unsere Aufgabe ist es, jüdisches Leben sichtbar zu machen – jenseits von Sicherheitsdiskursen oder folkloristischer Überhöhung.
Antisemitismus zu bekämpfen heißt, Haltung zu zeigen. Aber jüdisches Leben zu fördern heißt, Verantwortung zu übernehmen – für eine offene Gesellschaft, die aus ihrer Geschichte gelernt hat.
Darum geht es - und nicht weniger als das.