02.11.2020
Kultur

Brav gewühlt alter Maulwurf!

Am 19. September 2020 erhielt Prof. Dr. Alexander Kluge den Preis "Der Friedenstein", verliehen in der thüringischen Residenzstadt Gotha, auf Schloss Friedenstein, dem der Preis seinen Namen verdankt. In meiner Funktion als Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten wurde mir die Ehre zuteil, eine Würdigung von Alexander Kluge vorzunehmen. Nun könnte man annehmen - und dies ist ja auch nicht ganz falsch, wie der Preisträger selbst aus diversen Zeremonien, denen er entweder als Geehrter oder als Beigeladener beiwohnte, weiß - dass dem ministerialen Grußwort und der darin ausgedrückte Ehre eine gewisse routinierte Professionalität innewohnt.

Doch die Vorbereitung darauf war in jeder Hinsicht besonders, weil es mir erheblich Kopfzerbrechen bereitete, aus dem so vielseitigen Schaffen diejenigen Aspekte herauszugreifen, die für die Würdigung nötig und erforderlich sind und doch zu wissen, dass sie unzureichend bleiben werden.

Alexander Kluge erhält den Preis „Der Friedenstein 2020“ und wird geehrt als - in dieser Stadt Gotha zeitweilig die Schule besuchender ABC-Schütze - für sein, dies wird nicht überraschen, an diesen Lebensabschnitt anschließendes Lebenswerk. 
Schloss Friedenstein ist mit Kluges Arbeit auf eine nicht sofort ersichtliche Weise verknüpft, so wie es mit Thüringen durchaus weitere - wenn auch nicht sofort auf der Hand liegende - Verbindungen gibt. Dies soll nachfolgend offengelegt werden.

Das hiesige und weltberühmte Ekhof-Theater ist nicht nur eines der ältesten Barock-Theater, sondern agierte erstmals seit 1775 mit einem feststehenden Ensemble. Es revolutionierte auf diese Weise den Spielbetrieb aber verwies mit einem festen Gehalt für das Ensemble und sogar einer Pensionskasse zugleich auf die bis heute gültige Notwendigkeit der Verbindung von künstlerischer Freiheit durch soziale Sicherung. Dass der Theaterbesuch dem Bürgertum und damit nicht allein dem Hof zugänglich gemacht wurde, ist die zweite wesentliche Erneuerung des Theaterbetriebs seiner Zeit.

Es mag ein kühner Sprung sein, von 1775 in Gotha nach 1962 den Bogen zu den Kurzfilmtagen in Oberhausen einerseits und der Berliner Tagung der „Gruppe 47“ am Großen Wannsee andererseits zu schlagen. Denn dieses Jahr steht sinnbildlich für einen neuen Aufbruch im bundesdeutschen Film- aber auch dem Literaturbetrieb, der sich auch - und wesentlich - mit Alexander Kluge verbindet. 

Er war sowohl als Autor zur Vorlesung vor der Gruppe 47 eingeladen, nahmen aber auch am öffentlichen Austausch der Gruppe 47 mit den Akteuren des Oberhausener Manifests teil, zu dessen Initiatoren er gehörte. Allein an dieser Stelle tritt nicht nur die Vielfalt seines künstlerischen Handelns hervor, sondern zugleich das gesellschaftlich-diskursive und damit auch interventionistische Interesse, dass Kluges Arbeit bis heute prägt. 

Den Preis der Gruppe 47 erhielt damals der Ost-Berliner Autor Johannes Brobowski. Es war drei Jahre vor dem sogenannten Kultur-Plenum der SED 1965 in dessen Folge diejenigen zeitgenössischen Bücher und Filme nicht mehr erscheinen durften, die einen realistischen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung der DDR warfen. Und eine neue, jüngere DDR-Generation repräsentierten. 

Kluges Thema verband sich mit der von der gleichaltrigen Generation West repräsentierten Botschaft des Oberhausener Manifests. Auch sie proklamierten faktisch: „Papas Kino ist tot“. Oder auf ihre Herkunft in der DDR übertragen: „Papas Sicht auf die Widersprüche und Ambivalenzen der sozialistischen Gesellschaft“ ist tot. 

Anders als in der Bundesrepublik konnten sich in der DDR die Väter und Großväter im Politibüro gegen die jüngere Generation durchsetzen. Die im Zuge der anti-autoritären Revolte einsetzenden gesellschaftlichen Moderne West gestaltete sich im Osten mit den Worten des Kapitels aus Wolfgang Englers Klassiker „Die Ostdeutschen“: „Wie die Moderne zu den Ostdeutschen kam, kleinlaut wurde und wieder ging“. Erst 1990 konnten die 1965 verbotenen Bücher und Filme erscheinen. Als Echo einer Vergangenheit aus einem untergegangenen Land. 

Über das künstlerische Erbe dieses untergangenen Landes ist in den vergangenen 30 Jahren sehr viel und sehr kontrovers bis polemisch diskutiert worden. Alexander Kluge publizierte mit zwei Protagonisten des sogenannten ostdeutschen Bilderstreits, Georg Baselitz und Gerhard Richter, die zurecht, wie ich meine für ihre Position kritisiert werden.

So spannend es wäre, sich hier in Thüringen über ostdeutsche Kunst, z.B. Werner Tübkes, der in Bad Frankenhausen das Panorama-Museum gestaltete und die Leipziger Schule repräsentiert, auszutauschen und darzulegen, warum die Auffassung, in einer Diktatur könne keine Kunst entstehen, borniert und empirisch inzwischen nicht mehr haltbar ist, bietet eine Preisverleihung dafür keinen Raum. Sie ist eine Ehrung, kein Kolloquium. Im 30. Jahr der deutschen Einheit ist gleichwohl dieser Diskurs weiterhin erforderlich und eine Generation nach 1989 lässt sich dieser Diskurs möglicherweise weniger in den Gräben von Vorwurf und Verteidigung führen.

Die FAZ nennt Alexander Kluge frei von Dünkel, worin ich übereinstimme, wenn darunter das undogmatische Interesse und die Lust an der Erkenntnis gefasst wird. Was mich in der Betrachtung seiner Tätigkeit beeindruckt, ist die Vielfalt des Schaffens - Autor künstlerischer Literatur ebenso wie politisch-philosphischer Schriften, Filmemacher und Produzent sowie Repräsentant des Autorenkinos, Gründer von dctp - einer der wichtigsten deutschen Produktionsfirmen im Bereich des privaten Fernsehens, gefragter Gesprächspartner wieder ebenso gefragter Künstler*innen und nicht zuletzt in der vergangenen Dekade auch noch erfolgreicher Akteur des internationalen Museumsbetriebs.

Seine umfassende und andauernde Tätigkeit gibt Hoffnung, dass auch unmöglich erscheinende Komplexität erfolgreich absolviert werden kann. Dennoch bleibt es wohl Kluges gut gehütetes Geheimnis, wo er den Zauberstab gefunden und versteckt hat, der seinen Tag auf mehr als 24 Stunden zu verlängern scheint.

Wenn ich von der Vielfalt der Arbeit von Aleander Kluge spreche, dann sowohl aus gebührender Wertschätzung als auch deshalb, weil das gesellschaftlich-diskursive Interesse, das seiner Arbeit zugrunde liegt und in ihm seinen Ausdruck findet, auch das verbindende Moment darstellt, diese Vielfalt in einer besonderen Weise zu verdichten und deshalb das Gegenteil von Ekklektizismus darstellt. 

Kluge hat als Jurist promoviert und war in dieser Profession am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig. Derjenigen Institution, deren faktische Gründungsversammlung im Jahre 1923 nur wenige Kilometer von Gotha, in Geraberg - im benachbarten Ilmkreis - stattfand. Zu den Gründern um den stiftenden Mäzen Felix Weil gehörte auch Karl Korsch. Korsch war nicht nur ebenfalls Jurist und Wissenschaftler der Universität Jena, sondern gehörte 1923 auch der Thüringer Linksregierung aus SPD und KPD an, die nach nur knapp zwei Wochen im Zuge der Reichsexekution durch die Reichswehr aufgelöst wurde. 

Das Institut ist vor allem mit der „Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“ sowie u.a. den Namen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Franz L. Neumann verbunden. Mit dem Eintritt Horkheimers wandelte sich ab 1930 der Charakter des Instituts. Es waren nun nicht mehr vorrangig die ökonomischen Prozesse, die als Grundlage des sozialen Lebens untersucht werden sollten, vielmehr wurde die Gesellschaft in all ihren Sphären zum interdisziplinären Forschungsgegenstand. Eine enge Verschränkung von Philosophie und einzelwissenschaftlicher Forschung, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, technologischen Fortschritt aber auch psychischer Entwicklung der Individuen im Veränderungskontext von Recht, Kultur und Wissenschaft.

In diesem Wissenschafts- und Gesellschaftsprogramm bildet sich auch das Werk von Alexander Kluge ab. Davon zeugen insbesondere die gemeinsam mit Oskar Negt publizierten Schriften, die von inzwischen vielen Generationen von Studierenden und in der politischen Bildungsarbeit rezipiert wurden.

Im vergangenen Jahr stellte Kluge für die Oskar Schlemmer-Ausstellung, die hier in Gotha im Rahmen des Bauhaus-Jubiläums gezeigt wurde, eine Filminstallation zum Bauhaus zur Verfügung. Das Bauhaus repräsentiert in seiner Geschichte die Brüche der Moderne. Ob die aktuelle Corona-Pandemie eine neue Bruchlinie skizziert oder nur Tendenzen verstärkt, die sich seit dem Ende des kurzen 20. Jahrhunderts herausbildeten, ist noch nicht ausgemacht. Kluge legte seine Überlegungen  zur Pandemie und deren Folgen in einem lesenswerten Dialog mit Ferdinand von Schirach dar. Es lohnt sich, diese Überlegungen mit denen von Ivan Krastev vergleichend zu lesen. 

In einem Interview in der FAZ bezeichnete Alexander Kluge die Künstlerinnen und Künstler einmal als Pilotfischchen. Auf die Frage nach dem Warum antwortete er: „Haie haben um sich herum ganz winzige Fische, die die Navigation erleichtern, das sind geborene Navigatoren. Die Haifische brauchen die.“

Das Gespräch geht dann wie folgt weiter: 
FAZ: „Wenn die Künstler Pilotfischchen sind, besteht Gefahr, dass die absterben?“

Kluge: „Das glaube ich nicht, solange die Haifische Navigation brauchen. Die Haifische sind naiv, viel zu instinktgeladen, viel zu schnell. Und die Pilotfischchen sind die kleinen Ratgeber. Ich will die Kunst nicht mit den Pilotfischchen allein vergleichen. (Was dann fehlen würde) kann ich Ihnen so auswendig nicht sagen, aber Navigation ist nur eine Tätigkeit der Kunst. Da müssen Sie auch Hebammenkunst und Zirkuskunst einbeziehen.“

In der Betrachtung und Würdigung des vielschichtigen Werkes von Alexander Kluge soll hier statt des Pilotfischchens auf den Maulwurf Bezug genommen werden. Von Kant verspottet, widerfuhr ihm in der Philosophie Hegels, der in diesem Jahr 250 Jahre alt wird, Gerechtigkeit. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert er: „Bisweilen erscheint der Geist nicht offenbar (...) Hamlet sagt vom Geiste, der ihn bald hier- und bald dorthin ruft: ‚Du bist ein wackerer Maulwurf‘, denn der Geist gräbt unter der Erde fort und vollendet sein Werk.“

Und im 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in dessen Eingang Marx - unsterblich geworden - ausführt, das Hegel an einer Stelle formuliert habe, dass die Geschichte sich wiederhole aber vergessen habe hinzuzufügen „Einmal als Tragödie und einmal als Farce“, prognostiziert er, dass Europa nach Vollendung der Revolution rufen werde „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“

Diese Prognose ging zwar nicht in Erfüllung aber Alexander Kluge ist mit der gleichen Begeisterung für seine bisherigen intellektuellen und künstlerischen Grabungsarbeiten zu danken und auch für die Zukunft fleißige Schaufeln zu wünschen.