26.04.2019
Kultur

Ein notwendiges Kompendium zur richtigen Zeit

Für rund drei Monate, von Ende Oktober 2017 bis Anfang Februar 2018, zeigte das Potsdamer Museum Barberini die Ausstellung »Hinter der Maske. Künstler in der DDR«. Seit dem vergangenen November und noch bis Anfang Februar 2020 werden wiederum im Museum Barberini, das in seiner von Hasso Plattner gestifteten Sammlung einen Schwerpunkt auf die Malerei von Künstlerinnen und Künstlern der DDR gelegt hat, Werke in drei Themenblöcken »Aspekte des Malerischen«, »Moderne Historienmalerei«, »Melancholie und Malerei und Landschaft«gezeigt. Angesichts dessen, dass bald dreißig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung der Umgang mit Kunst aus der DDR durch eine Mischung aus politischer Unbeholfenheit, Vorurteilen oder Desinteresse begegnet und ihr zu häufig ein Randplatz zugewiesen wird, sind die bisherigen Ausstellungen im Museum Barberini bereits verdienstvoll.

Umso mehr Anerkennung gebührt dem von der Hasso Plattner-Stiftung nun angestrebten Vorhaben, das ehemalige DDR-Terrassenrestaurant »Minsk« eine städtebauliche Nachwendetragödie zwischen Hauptbahnhof und Landtag, zum Museum für DDR-Kunst zu machen. Damit würde eine Generation nach 1990 ein Ort entstehen, an dem ein ernsthafter Umgang mit der Kunst und insbesondere den Künstlerinnen und Künstlern der DDR möglich werden könnte. Denn die bis heute dominierende Vorstellung, die Kunst der DDR sei ausschließlich auf den »Sozialistischen Realismus« zu reduzieren, dürfte ironischerweise der letzte ideologische Sieg der Kulturabteilung beim ZK der SED sein. Er vernachlässigt aber eben, dass beispielsweise in der Malerei alle Stile umfassende Werke geschaffen wurden: expressiv, surreal, neusachlich-veristisch, manieristisch etc. und das thematische Spektrum insbesondere ab den 1970er Jahren "von der christlichen Ikonographie der Kreuzigung und Pietà über Vanitas-Motive zu den Themen der westdeutschen TV-Talk-Shows (reichten): Intensivstation, Umweltverschmutzung, überfüllte Strände, Verkehrsstau, Feierabendeinsamkeit, Entfremdung am Arbeitsplatz. Ehekrise, Beischlaf, Plattenbauelend etc." (Gillen 2005: 137).

An der Möglichkeit, einen abgewogenen, wissenschaftlich fundierten Blick, insbesondere auf die Bildende Kunst der DDR zu erhalten, hatte es bereits in der Vergangenheit nicht gemangelt. Der Museumspädagogische Dienst Berlin, inzwischen in der Kulturprojekte Berlin GmbH aufgegangen, veröffentlichte bereits 1996 mit dem bei Dumont erschienen umfangreichen Sammelband »Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte, Materialien« sowie neun Jahre später mit der, diesmal allein von Eckhart Gillen herausgegebenen und erneut bei Dumont erschienen, Dokumentation »Das Kunstkombinat Berlin. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik« zwei hervorragende Überblicksdarstellungen. Gleichzeitig fehlte es dennoch, trotz einer Vielzahl weiterer Einzeldarstellungen, Monographien oder auch Ausstellungskataloge, an einer umfassenden Kulturgeschichte der DDR. Seit dem vergangenen Jahr liegt diese nun, beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen, auf 2.429 Seiten vor.

Der im Thüringer Rudolstadt geborene Historiker Gerd Dietrich war bis 2010 Hochschullehrer an der Berliner Humboldt-Universität. Im Interview mit der ZEIT-Redakteurin Jana Hensel spricht er über die Ambivalenz seiner Nachwende-Erfahrung als »Edel-ABM-Kraft« einerseits, aber auch seinen Stolz, als einziger Ostler am Geschichtsinstitut der HU-Berlin verblieben zu sein. Diese verdienstvolle Arbeit ist sowohl die logische Fortsetzung der bereits 1993 von Dietrich veröffentlichten Monographie »Politik und Kultur in der SBZ 1945-1949« (Verlag Peter Lang) als auch zugleich das einzigartige geronnene akkumulierte Wissen Dietrichs. Dass es jedoch nicht als Resultat eines mehrjährigen öffentlich-finanzierten und durch wissenschaftliche Mitarbeiter/-innen getragenen Forschungsvorhabens entstand, sondern letztlich als sein privat erstelltes Lebenswerk nach dem Eintritt in den Ruhestand, spiegelt den Nachwende-Umgang mit Wissenschaftler/-innen aus der DDR in bemerkenswerter Weise wieder. Denn für vergleichbare Arbeiten zur bundesrepublikanischen Geschichte wäre ein solcher Umstand für eine Koryphäe wie Dietrich an einer westdeutschen Universität wohl schwer vorstellbar.

Die Geschichte der DDR, formuliert Dietrich im Vorwort seiner dreibändigen Chronik der Kulturgeschichte, zugleich eine Chronik der Kulturpolitik, des kulturellen Lebens aber auch der Lebensart im Sinne von Lebenskultur der DDR ist, wurde nach 1990 »zur Spielwiese und zum Experimentierfeld der Politik-, Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften«, bei der viel »instant history« (S. XII) entstanden sei. Ausgehend von Habermas' Diktum, nach dem eine »gute zeithistorische Darstellung [...] gleichzeitig den kritischen Maßstäben der Wissenschaft und den Erwartungen einer interessierten Leserschaft gerecht werden« soll, will Dietrich seine Kulturgeschichte verstanden wissen als einen »Interpretationsansatz, der entwicklungsoffen und historisch-kritisch die relative Normalität des Lebens in der DDR beschreibt, einer Gesellschaft, die nicht in der diktatorischen Herrschaft aufging und ihren Eigensinn und -wert besaß«. (S. XIX)

Selbstredend kennzeichnet auch Dietrich die DDR als »moderne Diktatur [...], denn sie war eine Herrschaft des 20. Jahrhunderts auf der Basis der Industriegesellschaft und zielte auf eine grundlegende Umgestaltet der Gesellschaft und die Schaffung eiens neuen Menschentyps ab [...], mit modernen Methoden diktatorischer Herrschaft, Propaganda und Kontrolle, durch die sie sich von Diktaturen früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte unterschied« (S. XXIX). Doch die Begriffsbestimmungen und Merkmale der Diktatur will Dietrich nicht ausschließlich im Hinblick auf unser heutiges Verständnis vom liberalen Rechtsstaat verstanden wissen, sondern aus kulturgeschichtlicher Perspektive darauf hinweisen, dass »diese moderne Diktatur neben ihren repressiven Funktionen zugleich wesentliche Transformations-, Bildungs- und Wohlstandseffekte entwickelte« (S. XXX). Wer ihm unterstellt, dies würde den diktatorischen Charakter der DDR legitimieren oder legitimatorisch entlasten, wird durch die Lektüre eines Besseren belehrt.

Differenziert wird das Themenfeld der DDR-Kulturgeschichte von Dietrich in zweimalig dreifacher Hinsicht: Zum einen in die Darstellung von populärer, politischer und hoher Kultur, zum anderen in historische Perioden (Übergangsgesellschaft und Mobilisierungsdiktatur 1945-1957, Bildungsgesellschaft und Erziehungsdiktatur 1958-1976, Konsumgesellschaft und Fürsorgediktatur 1977 - 1990) wobei letztere jeweils einen Band repräsentieren.

Die zeitliche Unterteilung wird schlüssig begründet. Die Vor- und Nachgeschichte des »Kahlschlag-Plenums«, also die 11. Plenartagung des Zentralkomitee (ZK) der SED vom Dezember 1965, in der die Auseinandersetzungen über den neuen Kurs der Liberalisierung in Ökonomie und Gesellschaft eskalierte und das einschneidende Wirkung auf den DDR-Kulturbetrieb hatte, wird im zweiten Band »Zwischen Bitterfeld und Weimar 1958 - 1965« ausführlich dargestellt. Das Plenum selbst wird unter Bezug auf eine Formulierung Peters Hoffs, was den Autor der hier vorgelegten Rezension als Peter Hoffs Sohn freut, unter der Überschrift »Ein kulturpolitisches Autodafé« beschrieben. Wer sich den Rahmenbedingungen und Wirkungsweisen dieses Plenums und seinen sozio-ökonomischen Hintergründen einerseits aber vor allem auch den politischen Akteuren innerhalb des Partei- und Staatsapparates sowie ihren Kontroversen andererseits, vertieft widmen möchte, dem ist begleitend zu Dietrich die im Carl Hanser Verlag bereits 2015 erschiene Monographie von Gunnar Decker »1965: Der kurze Sommer der DDR« empfohlen.

Gerade im besagten Abschnitt 4 wird die Stärke der Darstellung Dietrichs deutlich, unaufgeregt und ohne sich mit möglichst zitierfähigen Thesen hervorzutun, ein Nachschlagewerk erstellt zu haben, das die Leserin oder den Leser - überwiegend werden es Nachgeborene der DDR sein - kundig auf weitgehend unbekanntes Terrain zu führen und ihnen differenzierte Blickwinkel vorzustellen, Erklärungen anzubieten, ohne Anspruch auf abschließende Wahrheit.

Gewünscht hätte man sich, dass der Abschnitt 6.3 »Zwischen Vielfalt und Ausbürgerung«, der den zweiten Band beschließt, über die Diskussion der Grenzen kulturpolitischer Toleranz und die Darstellung der Ausbürgerung Biermanns (S. 1562 ff.) hinaus, die Mechanismen und Schicksale ausgebürgerter Künstlerinnen und Künstler systematisch beleuchtet. Nicht zuletzt auch im Hinblick auf die sich heute erst langsam stellende Frage der Provinienz von Sammlungsgut in Museen, Bibliotheken und Archiven in Ost- wie Westdeutschland in Folge der Ausbürgerung von Künstlerinnen und Künstlern aus der DDR.

Die von Dietrich vorgenommene Untergliederung in kultureller Hinsicht macht sein Bemühen deutlich, einen Gesamtüberblick zu geben, der spartenübergreifend ist und wirklich alle Facetten des kulturellen Lebens, der Kulturpolitik und des Kulturbetriebs umfasst. Dass dabei individuelle Vorlieben des Autors erkennbar werden, ist angesichts der Breite der Darstellung ebenso verständlich wie verzeihlich. Beeindruckend ist, wie es Dietrich gelingt in einer flüssig geschriebenen und deshalb nur selten ermüdenden Form unterschiedliche Facetten der DDR-Kulturgeschichte aufzurufen, die vom »Bitterfelder Weg« über Kleingarten und Datsche, Skins und Hooligans bis zum Breitensport reichen. Den Vorwurf des Ekklektiszismus fürchtet er nicht, in der Hoffnung »dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile« (S. XXVIII).

Im kommenden Jahr jährt sich zum 30. Mal die deutsche Wiedervereinigung. Es wäre wünschenswert, dass dem Übergang der DDR-Kultureinrichtungen in die ebenfalls am 3. Oktober 1990 wieder entstandenen ostdeutschen Länder sowie dem wiedervereinigten Berlin anlässlich dieses Ereignisses eine adäquate Darstellung gewidmet wird. Denn der Übergang dieser Einrichtung aber auch der Abwicklung vieler dieser Einrichtungen ab dem 4. Oktober 1990, womit zeitlich befristet bis zu 135 Beschäftigte des früheren Kulturministeriums der DDR befasst waren, findet nachvollziehbarer Weise in der Darstellung Dietrichs keinen Raum. Sie endet eben mit dem Ende der DDR, auch wenn Dietrich in einem umfangreichen Schlusswort eine Bilanz zieht, die freilich andere Schwerpunkte setzt.

Wenn jedoch heute auf bundespolitischer Ebene darüber räsoniert wird, dass Ostdeutschland seit 1990 überproportional stark von der Kulturförderung des Bundes profitiert habe, werden dabei ganz bewusst Äpfel mit Birnen verglichen: »Diese kleine DDR war nicht nur im Konsum von Spirituosen und in der Anzahl der Spitzel pro Kopf der Einwohner Weltmeister, sie hatte nicht nur die effektivste Buchzensur, sondern sie nahm auch in der Buchproduktion und in der Zahl der Theater eine Spitzenposition ein. 1988 gab es in der DDR 69 selbständige Theater, die etwa zweihundert Spielstätten zur Verfügung hatten. Und in keinem anderen Land gab es mehr Orchester - bezogen auf die Anzahl der Einwohner oder die Fläche - als in der DDR. [...] Und nähme man Thüringen, den Spitzenwert in der DDR, zum Maßstab, so sähen die Vergleichswerte für Bundesrepublik, USA und United Kingdom gerade zu furchbar aus« (S.XI), stellt Dietrich einleitend ebenso lakonisch wie zutreffend fest.

Der glückliche Umstand der deutschen Wiedervereinigung war als Prozess dennoch davon geprägt, westdeutsche Maßstäbe - auch die einer bundesrepublikanischen Kulturpolitik, in der erst 1998 überhaupt ein Staatsminister für Kultur auf Bundesebene geschaffen wurde und ohne die Ost-Erfahrung wohl auch dann nicht geschaffen worden wäre - auf die ostdeutsche Erfahrungsrealität und gewachsenen Strukturen zu legen und als alleinigen Maßstab gelten zu lassen. Und da konnte auch kulturföderalistisch nicht sein, was nicht sein durfte. Dass der Bund sich andererseits an Gedenkstätten und gemeinsam getragenen Stiftungen, wie z.B. der Klassik Stiftung Weimar strukturell beteiligte und millionenschwere Investitionsprogramme auf den Weg gebracht wurden, die vorrangig zum infrastrukturellen und denkmalschützerischen Substanzerhalt ebenso beigetragen, wie Ausbau ermöglicht haben, soll dabei nicht verschwiegen werden.

Man wünscht sich deshalb eine Darstellung dieses Prozesses, der Erfahrungen und Schlussfolgerungen, die es vom Tiefgang mit dem hervorragenden Überblick zur Kulturgeschichte der DDR aufnehmen kann, die man künftig nicht mehr und nicht weniger als »den Dietrich« bezeichnen wird.

 

Gerd Dietrich, Kulturgeschichte der DDR, Band I: Kultur in der Übergangsgesellschaft 1945-1957, Band II: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1958-1976, Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977-1990, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 2018.

 

 

Weitere Literatur:

Gunnar Decker, 1965: Der kurze Sommer in der DDR, Carl Hanser Verlag, München 2015.

Eckhart Gillen, Das Kunstkombinat DDR. Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik, Dumont, Köln 2005.

Günter Feist, Eckhart Gillen, Beatrice Vierneisel (Hrsg.), Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990, Dumont, Köln 1996.

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

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Neue Wege gehen
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Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.