04.11.2016
Benjamin-Immanuel Hoff
Medien

Zwischen Fakten, Fiktionen und Filterblasen: Demokratie im postfaktischen Zeitalter

Ein Begriff hat in jüngerer Zeit Furore gemacht: Postfaktisch. Der Physiker und Philosoph Eduard Kaeser setzte sich vor einiger Zeit in der NZZ mit dem Stellenwert von Fakten und Realität auseinander. Er wies darauf hin, dass die Fähigkeit, zwischen Informationen zu unterscheiden, sie zu interpretieren und kritisch zu prüfen, das Fundament unseres alltäglichen Urteilsvermögens bildet. Doch dieses Fundament ist weniger stabil, als es scheint: Fakten sind nicht unangreifbar – sie entstehen im Kontext, sind interpretierbar und müssen stets neu überprüft werden.

In der digitalen Öffentlichkeit, die von einem konstanten Informationsstrom geprägt ist, verschwimmen die Grenzen zwischen überprüfbaren Tatsachen und beliebigen Behauptungen. Wo Orientierung fehlt, rückt das Faktoid – eine vermeintliche Tatsache ohne gesicherten Wahrheitsgehalt – an die Stelle des überprüften Faktums. Soziale Medien verstärken diesen Effekt, indem sie vor allem jene Inhalte sichtbar machen, die unsere bestehenden Überzeugungen bestätigen.

Was in Orwells 1984 noch durch Folter erzwungen wurde – die vollständige Auflösung des Wahrheitsbegriffs zugunsten einer parteigesteuerten Realität – geschieht heute subtiler. Durch gezielte Desinformation, strategische Kommunikation und die Normalisierung von Unwahrheiten verliert die demokratische Öffentlichkeit ihren Bezug zum Faktischen. Die Folge ist ein Verlust an Kritikfähigkeit und die Aushöhlung dessen, was als gemeinsame Wirklichkeitsgrundlage gilt.

Demokratien sind jedoch auf verlässliche, institutionell abgesicherte Fakten angewiesen. Sie brauchen Orte und Verfahren, die Wahrheit unterscheidbar machen – nicht als absolute, sondern als überprüfbare, öffentlich zugängliche Grundlage für Entscheidungen. Wenn jeder sich selbst zum Experten erklärt und die professionellen Maßstäbe von Analyse und Evidenz untergraben werden, beginnt die Stunde der Demagogen, Vereinfacher und Stimmungsmacher.

In dieser postfaktischen Phase wird Wissen zunehmend durch Oberflächenwissen ersetzt – durch Suchergebnisse, nicht durch Einsicht. Die Internalisierung der Suchmaschine als vermeintliche Wissensquelle führt zu einem Zustand erkenntnistheoretischer Verantwortungslosigkeit. Wer googelt, hat noch nicht verstanden – und verwechselt Verfügbarkeit mit Verlässlichkeit.

Demokratie ist jener politische Raum, der das Recht auf Prüfung, auf kritisches Nachfragen schützt. In ihm muss sich Macht dem besseren Argument beugen. Doch dieses Ideal ist gefährdet. Die Aushöhlung demokratischer Diskurse beginnt dort, wo die Grundlagen für begründetes Wissen erodieren. Es ist höchste Zeit, uns bewusst zu machen, dass nicht nur politische Macht, sondern auch die epistemische Basis unserer Gesellschaft zur Disposition steht.

Ein berechtigter Einwand dazu lautet: Wir haben schon immer in postfaktischen Zeiten gelebt, denn erst nach den Fakten kommen deren Deutungen, Verarbeitungen und Meinungen, deren „Einordnung“ in Zusammenhänge, die interpretierbar sind. Wer sollten die Träger dieser Interpretation sein? In den guten alten Zeiten gingen wir davon aus, dass die Medien Träger dieser Interpretation sind, deren Unabhängigkeit und Staatsferne deshalb ebenso zu gewährleisten ist, wie einer unzulässigen Medienkonzentration mit den Instrumenten des Kartellrechts zu begegnen ist. Insbesondere die Medienkonzentration erfährt in dem Maße Kritik, wie Vielfalt der Medien auf lokaler oder regionaler Ebene im Printmediensektor durch vereinheitlichte Mantel- und Lokalredaktionen unterschiedlicher Blätter eines Medienunternehmens in Frage gestellt zu werden scheint. Ich formuliere bewusst vorsichtig, weil wir hier in einem laufenden Prozess keine voreilige Haltung einnehmen sollten.

Werner A. Meier vom Institut für Medienpublizistik Zürich brachte das Spannungsverhältnis zwischen Medienqualität und den Konzentrations- und Abbauprozessen im Medienbereich (hier in Berlin wird dies am Beispiel der Berliner Zeitung und des Berliner Kuriers gerade durchexerziert) 2015 auf den knappen Satz: 

„Die Funktion der Presse in der Gesellschaft besteht darin zu informieren, aber ihre Rolle besteht darin, Geld zu machen.“

Worum muss es künftig gehen?

1. Kritische Kontrolle ist ein zentrales Instrument medialer Selbstregulation und Wahrnehmung der Funktion der vierten Gewalt. Weniger Konkurrenz schaltet gute journalistische Qualität als Anreiz sukzessive aus.

2. Mehr lokale Berichterstattung gleicht journalistische Konkurrenz bei der Information über Landespolitik und Bundespolitik und die Abbildung gesellschaftlicher Meinungsströmungen nicht aus, für die FR und FAZ, TAZ, Neues Deutschland u.a. standen und bis heute stehen. Journalismus ist Erklärung und auch Meinung.

3. Recherche, auch investigative, braucht Zeit, Geld und Unabhängigkeit. Sie braucht hochqualifizierte Leute. Aktuell der Film „Spotlight“ und der Klassiker „Die Unbestechlichen“ zeigen die Bedeutung dessen.

4. Beim Parlamentarischen Abend der Thüringer Landesmedienanstalt im laufenden Jahr habe ich darauf hingewiesen, dass der Vorwurf der Lügenpresse nur denjenigen nützt, die funktionsfähige demokratische Institutionen insgesamt in Frage stellen und Menschen mit anderen Meinungen mit Mistgabeln aus den Redaktionen und Parlamenten treiben wollen. Wer nicht will, dass die parlamentarischen Steigbügelhalter einer solchen Infragestellung von Meinungsfreiheit und dem demokratischen und sozialen Rechtsstaat noch stärker werden, muss Pressevielfalt wahren und schützen.

Was passiert aber, wenn Staatskanzleien und andere zur Auffassung kommen, dass Regierungen dank Social Media - im Sinne der normativen Formulierung von Martin Fuchs - zu unabhängigen Verlagen und eigenen Verlegern werden. Ich plädiere hier für Selbstbeschränkung der Regierungen einerseits und gleichzeitig für die Fähigkeit, Bewegtbilder und Livestreams zu nutzen. Aber warum Selbstbeschränkung? Weil meines Erachtens die Einordnung von Informationen auch weiterhin der Maßstab sein sollte. 

Ein Fallbeispiel: Es gibt Indizien, dass sowohl der Front National in Frankreich, als auch Parteien in Deutschland aus Russland finanziert werden. Würde man einer Landesregierung, in der die AfD mitregiert (das Pro und Contra wurde in der ZEIT im Osten bereits diskutiert), eine Partei, die im Wahlkampf bewusst Social Bots einsetzen will, die Kompetenz ‎zugestehen, als Regierungsverlag und Verleger agieren zu wollen?

Eric Meyer stellte vor einigen Tagen auf Politik Digital eine kleine Literaturübersicht zum Thema Online-Medien und Postfaktizität am Beispiel des US-Amerikanischen Wahlkampfs dar. Hierzu die Kernfakten:

  1. "[...] Vermeintliche Randerscheinungen [können] eine zunehmende Relevanz für das Wahlverhalten haben, legt [...] ein Befund nahe, den der Reuters Institute Digital News Report 2016 für die USA belegen kann: Für Erstwähler verdrängen soziale Medien das Fernsehen als maßgebliche Quelle für Nachrichten. Damit wird auch eine weitere Problematik bedeutsamer, die bereits bei Abstimmungen wie dem Brexit-Referendum virulent geworden ist: Das neueste Mittel zur manipulativen Stimmungsmache sind `Social Bots`, die als vorgeblich von Personen stammenden Profilen in sozialen Netzwerken automatisiert eine vorgegebene Position vertreten.
  2. Wie diese Programme durch massenhaftes Auftreten Wahrnehmungen beeinflussen und ein bestimmtes Diskussionsklima erzeugen können, hat der Politikwissenschaftler Simon Hegelich zuletzt in einer Kurzstudie unter dem Titel `Invasion der Meinungs-Roboter` ‎prägnant analysiert.‎ [...] 
  3. Ein weiterer Trend könnte die postfaktischen Tendenzen spezifisch konfigurierter Online-Öffentlichkeiten verstärken. Johanna Dunaway hat sich in einem Diskussionspapier für das Shorenstein Center der Harvard University damit auseinandergesetzt, wie es sich auswirkt, wenn der Zugang zu Online-Medien vor allem über mobile Endgeräte erfolgt. Vor allem auf dem Smartphone werden im Vergleich zu größeren Geräten weniger News-Anwendungen genutzt, und gleichzeitig nutzen gerade benachteiligte gesellschaftliche Gruppen ausschließlich diese für den Online-Zugang. [...] 
  4. Gleichzeitig lässt sich bei der US-Wahl ein Trend feststellen, Fakten gerade durch Online-Kommunikation zur Geltung zu verhelfen. [...]‎ Eine Variante dieses Fact-checking-Formats praktiziert die Washington Post, die Transkripte der TV-Debatten mittels der Möglichkeiten von Genius.com annotiert. Damit lassen sich dann auch multimediale Inhalte und Nutzer-Kommentare einbinden. Artikel, die Faktenchecks beinhalten, kommuniziert die Washington Post auch besonders: Sie sind gebündelt als wöchentlicher Newsletter zu abonnieren und werden unter dem Hashtag `#factcheckfriday` als `Moment` getwittert.
  5. Die Karriere des Fact-checking manifestiert sich schließlich darin, dass Google in den USA und Großbritannien seit Mitte Oktober 2016 in den Suchergebnissen im News-Tab Beiträge als Faktenchecks identifiziert und gesondert ausweist. Ob Rubriken wie `Was wir wissen und was nicht` (so die in deutschen Online-Medien seit einiger Zeit populäre Variante) allerdings ein probates Mittel sind, um in die (sozial-medialen) Sphären des Postfaktischen einzudringen, bleibt abzuwarten."‎

In der Vergangenheit wurde viel darüber diskutiert, dass eine neue mediale Klassengesellschaft entstehe: Auf der einen Seite die Klasse der Informierten, die die Medien gezielt nach Nachrichten, Hintergrundsendungen, Kommentaren und Diskussionen absuchen. Auf der anderen Seite eine an der Sedativ- und Ablenkungswirkung der Medien interessierte Mehrheit. Durch die sozialen Medien kommt eine neue Dimension hinzu: Es bilden sich in der Gesellschaft „Meinungsblöcke“ heraus, die immerzu nach der Bestätigung ihrer eigenen – bisweilen kruden – Thesen suchen und sie im Internet auch finden. Es entstehen selbstreferentielle Räume, in denen sich die Menschen bewegen und abschotten. Eine Entwicklung, die Karl Poppers Prinzip der Falsifikation ad absurdum führt.

Unter diesem Gesichtspunkt lautet mein Fazit:

Ich plädiere dafür, den Rundfunkbegriff auf seine Funktion hin zu überprüfen und auszugestalten, auch und gerade im Konvergenzzeitalter Meinungsvielfalt und Grundversorgung sicherzustellen. Die „dienende Freiheit“, von der er spricht, bedeutet eben institutionelle Absicherung und Ausgestaltung der Kommunikationsfreiheit. Mir erscheint, dass das Bundesverfassungsgericht bezogen auf den Begriff der Rundfunkfreiheit einen möglicherweise klareren Begriff hat, als die Rundfunkstaatsvertragsgebenden Institutionen.

Der Rundfunkbegriff wird diese Grundversorgung und Meinungsvielfalt aber nur als Rahmen entwickeln können, denn die materielle Untersetzung des Rundfunkbegriffs unterliegt nicht zuletzt betriebswirtschaftlichen und regulatorischen Entscheidungen, die sich nicht zuletzt am Aspekt des Rundfunkbeitrags und der ökonomischen Perspektive der Medienunternehmen beweist.

Die Staatsferne der Medien bedeutet heute, nicht nur die inhaltliche Grenze regulatorischer Einflussnahme in den Blick zu nehmen, sondern auch die Handlungsform des Staates als eigener Mediengestalter. Hier sind die Landesmedienanstalten unverzichtbar und jeder Versuch, den Anteil der Medienanstalten am Rundfunkbeitrag abzusenken höchst problematisch. Eher muss hier ausgebaut werden.

Wer dem Staat mehr Möglichkeiten geben will, quasi redaktionell in sozialen Netzwerken tätig zu werden, darf die Entwicklung von Lokalen Sendern, Bürgermedien, Freien Radios etc. nicht vernachlässigen, sondern muss diese vielmehr fördern, entwickeln, stärken. Das ist gelebte Zivilgesellschaft und hier ist es natürlich im Kontext der Staatsferne-Debatte wichtig, dass ich mir in diesem speziellen Fall nicht den Zivilgesellschaftsbegriff von Antonio Gramsci zu Eigen mache, Zivilgesellschaft als erweiterten Staat zu sehen.

Wir dürfen nicht dem Irrtum unterliegen, dass wir es schaffen, einen längerfristig wirksamen Rundfunkbegriff zu entwickeln. Wir befinden uns im Hinblick auf die Medieninnovationszyklen in einem Hase- und Igel-Spiel.